Jubiläums-CD-Box
Mit Silber und Seele
Zum 100. Geburtstag der katalanischen Sopranistin Victoria de los Ángeles erschien bei Warner ein umfassendes Kompendium mit 59 CDs
Klaus Kalchschmid • 01. November 2023
Am 1. November wäre Victoria de los Ángeles 100 Jahre alt geworden. Vielleicht war sie keine Jahrhundert-Sängerin, wie die nur einen Monat jüngere Maria Callas. Vor allem aber war sie keine Diva, und von ihrem Privatleben ist so gut wie nichts bekannt. Auch deshalb schenkt man ihr heute weitaus weniger Beachtung als der exzentrischen, genialen Griechin. Aber mit ihren so unterschiedlichen Opern-Partien zwischen Vivaldi und Rossini, Verdi und Puccini bis Debussy, vor allem aber ihrem breiten Lied-Repertoire, beides in der Jubiläums-Box so umfangreich dokumentiert wie noch nie, war Victoria de los Ángeles einzigartig.
Sie besaß eine stets kostbar leuchtend zu Herzen gehende Stimme, der sie nie, wie die Callas, das Äußerste abforderte. Oft nahm sie eine Opernpartie zuerst auf und sang sie dann (eher selten) auf der Bühne, ebenfalls ganz im Gegensatz zur Callas. Ihr einzigartiges Timbre, das bei innigen und leisen Tönen besonders schön schimmert(e), von den Mikrophonen offensichtlich geliebt wurde und eine wunderbare Mixtur besaß aus fast knabenhaft vibratolosem Silberklang und weiblicher Beseeltheit, „lag in einem Mantel von Samt und entfaltete sich in einem Klang, der dem Ohr schmeichelte“, so Jürgen Kesting 1993 in seinem Kompendium „Die großen Sänger“.
Weiter schreibt der Gesangs-Experte: „Es ist eine Stimme für zärtliche Halbschatten und sanfte Andeutungen, die man in spanischer Musik kennenlernen sollte“. Denn niemand vor oder nach ihr hat so viel iberisches Repertoire von Mittelalter und Renaissance bis heute aufgenommen. Hier sind es allein sieben von 19 CDs mit Liedern (darunter berückende Aufnahmen der erst Mittzwanzigerin von 1948 bis 1950, noch bevor die LP erfunden war)! Eine Platte von 1960, betitelt „The Fabulous Victoria de los Ángeles“, beginnt mit unbekanntem Repertoire des 17. Jahrhunderts und gelangt über Schubert, Brahms und Fauré nach der Hälfte zu enorm vielfältig spanischer Musik des 19. Jahrhunderts – einfach grandios! Mal wird de los Angeles von der Gitarre begleitet (die sie auch einmal selber virtuos spielt), mal vom Klavier, einem kleinen (Barock-)Ensemble oder vom großen Orchester; mal sind dies Volkslieder, solche der sephardischen Juden oder „Traditionals“, mal raffinierte Kunstmusik. Neben bekannten Namen wie Manuel de Falla, Joaquín Rodrigo oder Enrique Granados lernt man viele hierzulande eher unbekannte Komponisten mit wunderbarer Musik kennen.
Dazu kommt viel Französisches (mit Klavier oder Orchester) von Debussy, Ravel, Duparc, Chausson, Fauré und Reynaldo Hahn, das sie bewundernswert idiomatisch singt, aber auch gemischte Programme, darunter zwei Live-Recitals (1964 und 1971). Alle Studioaufnahmen für HMV und die spätere EMI umfasst die Box, aber leider keinen Livemitschnitt einer Oper. Den hat allerdings Orfeo International veröffentlicht mit dem «Tannhäuser» unter André Cluytens von den Bayreuther Festspielen 1961, in der Victoria de los Angeles eine überragende Elisabeth singt. Auf einer 78-rpm von 1950 gibt es ihre Hallenarie, zusammen mit Elsas „Einsam in trüben Tagen“, die de los Angeles leider nie ganz auf Platte aufgenommen oder gar auf der Bühne dargestellt hat (Eva in den «Meistersingern» schon). In perfektem Deutsch gesungen, gib dies einen Eindruck davon, was für eine jugendlich-dramatische Wagner-Sängerin de los Angeles vielleicht auch hätte werden können: „Ernst und herb war diese Elisabeth, durchdrungen von ihrer Mission, stimmlich in einer aufregenden Schwebe zwischen Jungfräulich und Fraulich“, so Jens Malte Fischer 1995 in „Große Stimmen“ über ihren Auftritt bei den Bayreuther Festspielen. Frühe Aufnahmen von Arien der Gräfin, mit der sie 1946 am Teatro Liceo ihrer Geburtsstadt Barcelona debütierte, Cherubinos „Voi che sapete“ aus dem «Figaro» oder ein großartiges, nahezu vollendetes „Exsultate jubilate“ zeigen aber auch eine wunderbare Mozart-Sängerin, hat de los Angeles doch schon 1950 Donna Anna in «Don Giovanni» mit großem Erfolg bei den Salzburger Festspielen gesungen. Außer einer Ariadne 1950 an der Met hat sie wohl leider kaum Richard Strauss interpretiert und auch nicht eingespielt. Da war wohl die Konkurrenz durch Elisabeth Schwarzkopf bei derselben Plattenfirma zu groß, leider.
In der Warner-Box aber gibt es unter den 20 Gesamtaufnahmen solche Geschenke wie jeweils zwei Aufnahmen (in Mono und Stereo) von Rossinis «Barbiere» (1952 und 1962), Gounods «Faust» (1953 und 1958) und Puccinis «Madama Butterfly» (1954 und 1959). Graf Almaviva war einmal Nicola Monti, das andere Mal der weitaus berühmtere Luigi Alva. Jugendliche Frische und Unbekümmertheit der 29-Jährigen steht zehn Jahre später weibliche Erfahrenheit gegenüber; beides fasziniert. Als Gounods Faust ist jeweils Nicolai Gedda zu erleben: Wie de los Angeles klingt er in der nur fünf Jahre jüngeren Aufnahme um einiges reifer und facettenreicher. Bei der «Butterfly» übertrifft dagegen die frühere Einspielung mit Mario del Monaco als Pinkerton und dem Orchester der römischen Oper unter Gianandrea Gavazzeni die spätere Fassung mit Jussi Björling.
Dazu kommen legendäre Versionen von «La Bohème» und «Carmen», auch eine phänomenale Aufnahme von Debussys «Pelléas et Mélisande» oder Jules Massenets «Manon» und «Werther» sowie (neben der «Traviata») der seinerzeit noch selten aufgeführte «Simon Boccanegra» Giuseppe Verdis. Aber auch «Pagliacci»/«Cavalleria Rusticana» und «Suor Angelica»/«Gianni Schicchi» aus Puccinis «Il Trittico» sind prominent und mustergültig vertreten. Mit diesen 59 CDs kommt man jedenfalls gut über einen trüben, regnerischen November.
CD-Box: „Victoria de los Ángeles. The Warner Classics Edition. Complete Recordings on His Master's Voice & La Voix de son maître“ (59 CDs), Warner Classics