Musica a Palazzo
Sitzen in der Kulisse
In Venedig bespielt ein Verein einen alten Palazzo auf dem Canal Grande. Für die einzelnen Akte wandert das Publikum von einem Saal zum nächsten
Stephan Burianek • 22. November 2023
Es handle sich hier nicht um den Eingang zu Musica a Palazzo, steht unmissverständlich auf der Türe eines Hotels. Offenbar bin ich nicht der erste Fehlgeleitete, der mit der Googlemaps-App jenes Opernhaus gesucht hat, das an jenem Nachmittag Verdis »La traviata» spielen soll. Gemeint ist freilich weder das legendäre La Fenice, noch seine Spielstätte im Teatro Malibran. Nein, mein Opernhaus an jenem Tag ist der Palazzo Barbarigo-Minotto am Canal Grande unweit der Accademia-Brücke. Wie meistens in Venedig, liegt sein fußläufiger Eingang auf der Rückseite des Gebäudes, in einer schmalen Sackgasse, gleich ums Eck des besagten Hotels.
Unten in der Eingangshalle haben sich eine halbe Stunde vor Beginn bereits an die zwanzig Besucher eingefunden, die in Tranchen die steile Treppe hinaufgelassen werden. Sie mündet, wie bei venezianischen Palazzi üblich, im Portego des Hauses. Dieser längliche Verbindungsraum im Piano Nobile, der prunkvollen ersten Etage, führt in sämtliche andere Räume und verläuft in der Regel von der Wasserseite bis zur Rückseite des Hauses. Dort findet man im Palazzo Barbarigo-Minotto jene untergegangene Pracht, die von den Literaten seit Napoleon immer wieder gerne romantisiert wird: An den Wänden hängen von der Zeit eingedunkelte Gemälde und verblichene Spiegel in üppig geschnitzten und vergoldeten Holzrahmen. Leuchter mit angezündeten, echten (!) Kerzen sorgen für ein stimmungsvolles, warmes Licht.
Im Palazzo Barbarigo-Minotto wird vor sechzig bis siebzig Personen eine eingedampfte Kurzfassung gespielt. Die Handlung wurde auf die Hauptfiguren Violetta, Alfredo und seinen Vater Germont reduziert (plus einer Haushaltshilfe als Statistenrolle), und die Orchesterpartitur wird von einem klassischen Trio aus Violine, Cello und Klavier interpretiert. Das geht natürlich nicht ohne Einbußen, zumal der kleine Kawai-Flügel gewöhnungsbedürftig klingt. Die Namen der Sänger, die bei Musica a Palazzo häufig wechseln, sind im Programmheft nicht zu finden, aber ein kleiner, gerahmter Besetzungszettel verrät, dass an diesem Abend Angela Gandolfo die Violetta und Orfeo Zanetti den Alfredo singen.
Wer unter den gegebenen Umständen eine feine, liedhafte Liebesbezeugungen erwartet, der irrt: Die beiden brüllen einander ihre Liebe förmlich ins Gesicht. Gandolfo, die stimmlich eine gute Anlage besitzt, braucht eine gewisse Anlaufzeit und scheint anfangs gelegentlich noch die ideale Intonation zu suchen. Sie steht am Beginn ihrer Gesangskarriere und sammelt mit diesen Aufführungen wertvolle Praxis, hingegen ist Zanetti ein bereits älterer Haudegen mit einer schönen, gereiften Tenorstimme, die sich im Forte hörbar am wohlsten fühlt.
Nach einer kurzen Pause mit Spumante und einem flüchtigen Blick auf den Canal Grande wechselt das Publikum – nicht jung, aber noch nicht ergraut und zumeist in Pärchenformation – den Saal. Als Violettas und Alfredos Liebesrefugium auf dem Land fungiert ein Salon mit originalen Ciaroscuro-Fresken von Giambattista Tiepolo an der Decke (das bunte Hauptgemälde ist eine Kopie aus der Ca‘ Rezzonico) und stuckierten Musikinstrumenten über den Türen. Dort klingt das Klavier, ein Pianino, besser, und auch die beiden Protagonisten scheinen sich aufeinander eingesungen zu haben. Als Alfredos Vater stößt ein gewisser Andrea Zese hinzu, der zwar eine weniger starke Röhre besitzt, aber genau deshalb bestens in den Rahmen passt. Für das Finale übersiedelt man dann in ein riesiges Schlafzimmer mit reichen Stuckaturen und einem sehenswerten Alkoven, dessen Portal von zwei Putti mit einem Wappen gekrönt wird. Dort wird Violetta nach zügigen zwei Stunden inklusive Pause aus dem Leben gerissen, das Publikum ist begeistert.
Unmittelbar nach der Vorstellung folgt an jenem Tag die nächste, denn wir saßen ein einer eingeschobenen Zusatzvorstellung – und das im November! Musica a Palazzo ist ein wahrer Renner, seit achtzehn Jahren werden in denselben drei Räumen im Palazzo Barbarigo-Minotta dieselben drei Opern gespielt: Rossinis «Barbier von Sevilla» und Verdis «Rigoletto» sowie dessen «Traviata».
Zumindest die «Traviata» hat einen Venedig-Bezug, immerhin wurde diese Oper im La Fenice uraufgeführt. Heutzutage werden nur mehr sehr wenige Vorstellungen in diesem legendären, vor zwanzig Jahren nach einem Brand originalgetreu wiedererrichteten Opernhaus gezeigt. Man möchte dort kein Minus machen, heißt es. Dass im Geburtsort des ersten öffentlichen Opernhauses immer weniger Oper gespielt wurde, war laut dem Pianisten Giovanni Dal Missier ein Beweggrund für Musica a Palazzo: „Als ich mit anderen Musikern im Jahr 2006 gestartet bin, hatten wir noch kein richtiges Konzept, wir wollten einfach nur Musik und Oper machen, weil das Angebot überschaubar war.“ Mit dem Palazzo Barbarigo-Minotto fand das eine bald zum anderen.
Weil der Verein Dimensione Lirica, der Musica a Palazzo seit 2020 organisiert, nicht subventioniert wird und einen privaten Palazzo einer alteingesessenen venezianischen Familie bespielt, werden die Besucher von Musica a Palazzo mit dem Kauf ihrer Eintrittskarte automatisch Vereinsmitglieder für ein Jahr. Vor der Vorstellung muss daher ein entsprechendes Formular ausgefüllt werden, das dann von zwei Männern an einem Tisch feierlich entgegengenommen wird. Im Gegenzug erhält man eine händisch ausgestellte Mitgliedskarte.
Die Mitgliedsbeiträge werden nicht nur für die Bezahlung der Musiker verwendet, sondern helfen außerdem, die sichtlich angeschlagene Spielstätte zu erhalten. „Um diesen Ort perfekt zu renovieren, bräuchten wir natürlich viel mehr Geld, aber wir machen, was wir können“, sagt Giovanni Dal Missier im Gespräch mit OPERN∙NEWS.
Trotz der geringen Sitzplatz-Kapazität zeigt Musica a Palazzo, dass in der Touristenstadt Venedig, in der die Kulturdichte so hoch ist wie nirgendwo sonst auf der Welt, zweifellos eine Nachfrage besteht. Man fragt sich, warum die Stadtväter offenbar derart uninteressiert sind, die touristisch besonders attraktive – weil in der Regel ziemlich pflegeleichte und eher zahlungskräftige – Zielgruppe der Opernaffinen anzusprechen. Auch eine andere Initiative, ausgehend vom britischen Geschäftsmann Paul Atkins, der mit privaten Geldern das erste öffentliche Opernhaus in der Geschichte dieser Kunstform – das Teatro di San Cassiano – wiedererrichten möchte, kann ein Lied von der Schwierigkeit singen, vom offiziellen Venedig entsprechende Bekenntnis zu gewinnen (siehe Wenn ein Traum ein ganzes Theater versetzt). Aber das ist eine andere Geschichte, über die bald mehr zu berichten sein wird.
Dimensione Lirica (Musica a Palazzo) ∙ Palazzo Barbarigo-Minotta
www.musicapalazzo.com