Grand Théâtre de Genève

Requiem für Säure-Opfer

In Genf erinnert intensives Musik-Theater von Héctor Parra und Milo Rau unter dem Titel «Justice» an den Unfall eines Lasters mit Säure und 21 Toten im Kongo

Klaus Kalchschmid • 24. Januar 2024

Milo Rau lässt den Abend wie Dokumentartheater ablaufen. Die Protagonisten treten für ihre Arien an die Rampe. Im Bild: Willard White als Priester © Carole Parodi

Im Februar 2019 gab es in Katanga im Süden der Republik Kongo einen folgenschweren Unfall, als ein mit Säure beladener, nicht versicherter Tanklaster mit einem Bus kollidierte und erst nach Stunden einundzwanzig Menschen tot und sieben schwerverletzt geborgen werden konnten. Die Säure floss in die Felder und verseuchte das Grundwasser. Bis heute wurden die Überlebenden und die Familien der Toten nur mit kleinen Summen als Entschädigung abgespeist und einzig der Busfahrer zur Verantwortung gezogen. Aus diesem Geschehen entwickelte der kongolesische Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila nach einem Szenario von Milo Rau, der 2015 schon ein semidokumentarisches „Congo Tribunal“ veranstaltet hatte, einen Abend, in dem Tote und Überlebende das Erlittene und die Wunden, die geblieben sind, suggestiv vor Augen und Ohren führen. Dokumentarisches, wie Videos von der Unfallstelle und von vier Überlebenden, wechselt sich ab mit Gesang, der das Geschehene poetisch überhöht und Erinnerungsarbeit leistet.

Dazu wird immer wieder gesprochen, so stellt der Librettist selbst am Anfang nach einem spannenden, immer mal wiederkehrenden Intro des kongolesischen (E-)Gitarren-Virtuosen Kojack Kossakamvwe die Mitwirkenden vor und benennt die Akt-Zäsuren (Der Reichtum der Erde, der Milliadär, Schwefelsäure, Die verschwundenen Welten, Der Abschied). Er erklärt aber auch den Fluch der Privatisierung und der damit verbundenen Aufteilung der Kobaltminen auf verschiedene Firmen, die sich nicht mehr für ihre Arbeiter verantwortlich fühlen, wie einst das staatliche Unternehmen, das Schulen und Wohnung baute.

Mit ergreifender Intensität klagt Axelle Fanyo als Mutter über den Tod ihres Kindes © Carole Parodi

Viele der Protagonisten wurden mit Wurzeln in Afrika oder speziell im Kongo gefunden, so der Countertenor Serge Kakudji als doppelt beinamputierter junger Mann. Wie er einst voller Freude sehr schnell gelaufen ist, berichtet er mit berührend feiner Stimme, während er barfuß und in kurzen Hosen aus dem Rollstuhl aufsteht und man seine noch gesunden, schönen Beine in Bewegung sieht. Die Sopranistin Axelle Fanyo gibt den Klagen der Mutter des toten Kindes ergreifende Intensität; Lauren Michelle singt diffizil und nicht weniger eindrücklich sowohl das tote Kind wie die Anwältin, während Joseph Kumbela und Pauline Lau Solo als „Opfer und Überlebende“ nur sprechen. Dem mächtigen Bassisten Willard White als Priester steht der junge Bassbariton Simon Shibambu als junger Priester gegenüber. Idunnu Münch ist mit jugendlich schlankem Mezzo und großer Bühnenpräsenz die etwas naive Frau des zynischen Direktors, den Peter Tantsits mit leichtfertig auftrumpfendem Tenor singt und spielt. Katarina Bradić erzählt mit leidenschaftlichem Mezzo von den seelischen Nöten und den Verdrängungsmechanismen des Lastwagenfahrers.

Das Fundament des Ganzen ist die mit drängendem Puls meist treibende, manchmal aber auch irritierend bremsende Kraft der ungemein packend suggestiven (Instrumental-)Musik Héctor Parras. Sie besitzt einen unverwechselbaren Charakter und gibt sich zugleich enorm vielfältig. Dabei reicht das Spektrum von massiv gestauchten Blechbläser-Entladungen bis zur feinen Streicher-Begleitung in den ariosen Momenten des Abends, die teilweise traditionelle kongolesische Musik aufgreifen. Stets sind die Akkorde so harmonisch-melodisch geschärft und das Ganze so reich instrumentiert, dass alles ungemein plastisch klingt. Das Orchestre de la Suisse Romande spielt unter Titus Engel mit einer Präzision und feinen Expression, dass jede fein gesponnene lyrische Phrase, aber auch jede Klangballung und -schichtung unmittelbar eingängig sind.

Nie vergisst das Publikum, dass es hier um das Leid von realen Menschen geht, denen keine Gerechtigkeit widerfuhr © Carole Parodi

Die Bühne von Anton Lukas dominiert der umgestürzte Lastwagen, vor dem verätzte Puppen so realistisch aussehen, dass man erschrickt, als diese im Video erscheinen, und sie für echt hält. In solchen Momenten überlagert sich das geschilderte mit dem Bühnengeschehen und ergänzt sich wechselseitig. Milo Rau lässt den Abend ansonsten fast nüchtern wie Dokumentartheater ablaufen. Der (exzellente) kommentierende Chor des Grand Théâtre ist schwarz gekleidet und agiert ebenso wenig wie die Protagonisten, die für ihre Arien einfach an die Rampe treten. Ein großer Tisch, an dem die Einweihung einer Schule gefeiert wird, ist mit seinen Gästen lediglich Staffage und wird zunehmend leerer. Aber so stellt ein Lichtwechsel, der die kahle Hinterbühne plötzlich wie Gefechtsfeldbeleuchtung erhellt oder Kleidung, die wie leblose Menschen sich aus dem Schnürboden herabsenkt, schon ein Ereignis dar. Und nie vergisst das Publikum, dass es hier um das Leid von realen Menschen geht, denen keine Gerechtigkeit widerfuhr.


«Justice» – Héctor Parra
Grand Théâtre de Genève 

Kritik der Premiere am 22. Januar 2024
Termine in Genf: 24./26./28. Januar
Termine im Festspielhaus St. Pölten: 30. April; 1. Mai