Video-Stream
Eilige Aufarbeitung
Im vergangenen Jahr führte Oksana Lyniv gemeinsam mit ihrem Jugendorchester und zwei Kinderchören erstmals eine von ihr in Auftrag gegebene Kantate über Kriegsverbrechen in der Ukraine auf
Stephan Burianek • 28. Februar 2024
Nie wieder – so lautete in Europa ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs das scheinbar unverrückbare Motto der nachfolgenden Generationen. Knapp 80 Jahre später ist klar: Diese Rufe waren zu leise, der Common Sense nicht stark genug, das verbrecherische System von menschenverachtenden Eliten breitet sich wieder aus, auch bei uns.
Daher ist das Erzählen von wahren Geschichten wie dieser, die Opfer und Täter klar benennt, gerade in unserer Zeit so wichtig: Nach der Eroberung von Teilen der Ostukraine durch russische Truppen im Jahr 2022 wurde der ukrainische Schriftsteller Volodymyr Vakulenko als Befürworter eines ukrainischen Staates von einem oder mehreren Bewohnern seiner Region denunziert und gemeinsam mit seinem Sohn Vitali, der von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen ist, verhaftet. Vitali, über dessen weiteres Schicksal die Kantate «Daddy’s Book» keinen Aufschluss gibt, wurde „gnädiger Weise“ freigelassen („We will release him tonight. We are not Nazis“, wird ein Russe zitiert). Der alleinerziehende Vater wurde indes zunächst gefoltert und vermutlich im Dezember 2022 (das Datum ist unbekannt) in der Nähe von Charkiw getötet.
Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv beauftragte den Komponisten Evgeni Orkin mit der Vertonung dieser exemplarischen Geschichte auf der Basis von Vakulenkos Tagebucheinträgen (englische Übersetzung) und Kindergedichten (in ukrainischer Sprache) sowie auf Zeugenaussagen (Englisch).
Seit wenigen Tagen ist auf Youtube der Video-Mitschnitt der Uraufführung im vergangenen Jahr in Brüssel durch das von Lyniv mitbegründete Jugendsinfonieorchester der Ukraine und zwei Kinderchören zu sehen. In beiden Klangkörpern haben zahlreiche Jugendliche ihre Eltern und vor allem ihre Väter verloren.
Die etwa dreißig Minuten lange Partitur changiert zwischen Oratorium, dramatischer Erzählung, unbekümmertem Kinderspiel und Totengedenken – und spiegelt somit die unvorstellbare Bandbreite an Gefühlen zwischen Optimismus und Trauer wider, mit der ein ganzes Volk und vor allem direkt Betroffene seit mehr als zwei Jahren konfrontiert sind. An der erstmaligen Aufführung beteiligt waren außerdem Yuliia Tkachenko (Sopran), Valentina Pluzhnikova (Mezzosopran), Andrii Bondarenko (Bariton) sowie Philip Kelz (Sprecher). Die Emotionen des Konzertpublikums sowie der Interpreten hört und sieht man am Ende und kann sie sich doch nicht vorstellen.
Im Gegensatz zu bisherigen Genoziden durch despotische Systeme in Europa wird der barbarische Angriff von Putin-Russland auf die Ukrainer dank moderner Technik nahezu in Echtzeit dokumentiert. Freilich ist es selbst heute unmöglich, sämtliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit festzuhalten, und doch liefern uns seit Beginn der vollumfänglichen Invasion täglich Handykameras hautnahe Belege von Raketeneinschlägen und Drohnenangriffen sowie von den Plünderungen durch russische Soldaten sowie den mutigen Widerstand der ukrainischen Bevölkerung.
Dass Russland die ukrainische Kultur und ihre Künstler ganz gezielt ins Visier nimmt, wird im Westen allerdings immer noch viel zu wenig beachtet. In einer Pressemitteilung, die Oksana Lyniv an einige Freunde und Pressevertreter schickte, um auf den Stream aufmerksam zu machen, wird sie mit den Worten zitiert: „Dieses Phänomen wird bereits als ‚zweite hingerichtete Renaissance‘ bezeichnet (nach der ersten in den 1920er und 1930er Jahren).“
Um Geschichten, wie jene von Volodymyr Vakulenko zu retten, muss man aber schnell sein. Die Schriftstellerin Viktoria Amelinadie, die das in Vakulenkos Garten vergrabene Tagebuch gefunden hatte, wurde im Juni 2023 kurz nach dessen öffentlicher Präsentation bei einem Raketenangriff in Kramatorsk ebenfalls von den Russen ermordet.
«Daddy's Book / Татусева Книга» (Vaters Buch) – Evgeni Orkin
Die Uraufführung fand am 5. September 2023 in BOZAR, Brüssel, im Rahmen des Projektes „Lost Childhood“ statt. Das Projekt wurde mit Unterstützung von BOZAR, dem Belgischen Bundesamt für Außenangelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, dem Festival LvivMozArt, der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beim Königreich Belgien, der Ridni Foundation, dem Jugendzentrum Destelheide, dem Ministerium für Kultur und Informationspolitik der Ukraine sowie mit der freundlichen Hilfe von Volodymyrs Mutter, Olena Ihnatenko, und Volodymyrs Verlagshäuser Vivat und The Old Lion Publishing House umgesetzt.