Danzig

Oper zwischen Bernstein und Meer

Zum zweiten Mal findet im Sommer das von Tomasz Konieczny gegründete Baltic Opera Festival statt. Wir haben uns die Danziger Region und die Spielstätten angeschaut

Stephan Burianek • 11. Juni 2024


OPERN∙NEWS stellt diesen Artikel kostenlos zur Verfügung. Kaufen Sie ein Förderabo, um unsere journalistische Arbeit und unsere freien Autoren und Autorinnen zu unterstützen!
Warum das wichtig ist, erfahren Sie unter diesem Link.


 

Tomasz Konieczny vor jener Fertigungshalle einer Schiffswerft, in der Beethovens Neunte gespielt werden wird © Krzysztof Mystkowski

In der Fertigungshalle wird gehämmert und geschweißt, riesige Metallteile warten auf ihre weitere Verarbeitung. Einigen ist ihre spätere Bestimmung bereits anzusehen – ein Schiffsbug da, eine Seitenwand dort. Es ist kaum vorstellbar, dass in weniger als zwei Monaten genau an dieser Stelle ein großes Konzert stattfinden soll. Wir befinden uns in Gdynia, einer Küstenstadt an der Danziger Bucht in der Ostsee – nur 120 Kilometer Luftlinie sind es von hier nach Kaliningrad.

OPERN·NEWS ist der Einladung von Tomasz Konieczny gefolgt. Der berühmte Bass-Bariton hatte in der Coronazeit die Idee eines Opernfestivals, das diesen Sommer zum zweiten Mal als Baltic Opera Festival in der Danziger Region stattfinden wird. „Wenn man von Danzig spricht, dann kommen einem unweigerlich die Schiffswerften in den Sinn, die ja für die Freiheit der Polen eine große Bedeutung haben. Hier starteten die Arbeiter um Lech Wałensa die Solidarność, die zum Fall des Kommunismus geführt hat. Mir war von Beginn an klar, dass ich die Schiffshallen in irgendeiner Form in das Festival einbinden möchte.“ 

Am 23. Juli wird das Ukrainian Freedom Orchestra der Fertigungshalle der Crist-Werft unter der Leitung von Keri-Lynn Wilson die Neunte von Beethoven spielen. Wilson ist die Ehefrau des Intendanten der New Yorker Met, Peter Gelb, und hat das Orchester, das sich aus ukrainischen Wurzeln. Das Orchester setzt sich aus ukrainischen Musikern zusammen, seit seiner Gründung vor zwei Jahren hat es seine Residenz in Warschau, von dort tourt man seither durch die Welt. Ein polnischer Chor wird in der Fertigungshalle auf Ukrainisch die „Ode an die Freude“ singen, das Wort „Freude“ ersetzt man durch „Freiheit“. Als Schirmherr für dieses Konzert konnte Lech Wałesa persönlich gewonnen werden – eine absolute Ausnahme und Ehre, so Konieczny. 

Koniecznys „Partner in crime“ ist sein langjähriger Freund Rafał Kokot, ein ausgebildeter Klarinettist und ehemaliger Saxofonist in einer bekannten polnischen Popband. Als Kokot die beiden Gründer und Besitzer der Schiffswerft Crist in Gdynia ansprach, zögerten diese laut eigener Aussage mit der Zusage nicht. Das Unternehmen, das auch am Bau von Meeresbrücken und eines Unterwassertunnels zwischen Deutschland und Dänemark beteiligt ist, beschäftigen seit dem Beginn der Großen Invasion Russlands mehrheitlich Ukrainer. Der Betrieb lässt sich die Unterbrechung durchaus etwas kosten: Die Fertigung wird zwei Tage stillstehen und die Arbeiter werden beurlaubt, erklärten die beiden Unternehmer bei einem Pressetermin. 

Die Waldoper von Sopot fasst 4.400 Besucher © Krzysztof Mystkowski

Von Danzig nach Gdynia fährt man mit der Regionalbahn etwa vierzig Minuten. Dazwischen liegt der mondäne Badeort Sopot, zusammen bildet man die Metropolregion Trójmiasto („Dreistadt“). Nur etwa 15 Minuten sind es in Sopot zu Fuß vom Bahnhof zur Waldoper, einem großen, mittlerweile mit Segeln überdachten Open-Air-Theater nach griechisch-antikem Vorbild. Früher, als die Stadt noch eine deutsche war und Zoppot hieß, wurden im Sommer hier, von einem Wald umgeben, vor allem Wagner-Opern gespielt – man nannte Zoppot das „Bayreuth des Nordens“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die gesamte Danziger Region endgültig dem polnischen Staat zugesprochen und mit polnisch sprechenden Einwanderern u.a. aus Galizien besiedelt – seither war das Interesse an deutscher Oper gleich Null. 


Bernstein-Vogel hört Oper

Nun hat Polen aber einen weltbekannten Wagner-Bassbariton, und der erinnert seine Landsleute nun an die Ursprünge der Waldoper, die ihren Namen interessanterweise bis heute als „Opera Leśna“ behielt. Als Austragungsort von Pop-Konzerten und Pop-Wettbewerben wurde sie durch das Fernsehen über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Links neben der großen Bühne steht heute ein künstlicher Vogel auf einer Stele – er bildet ein vergrößertes Modell jener Trophäen, die bei ausgezeichneten Popmusikern die Kaminsimse zieren.

Das Motiv der Trophäe ist nicht zufällig gewählt: Auch bei unserem Besuch ist Vogelgezwitscher zu hören bevor die Sopranistinnen Zuzanna Nalewajek und Patrycja Krzeszowska für Journalisten und den Sopoter Bürgermeister auf Polnisch das Schlaflied aus Humperdincks «Hänsel und Gretel» singen – ein seinerzeit viel gespieltes Werk in der Waldoper. Aus mehreren Gründen wird die Märchenoper im Rahmen des Festivals vorläufig nicht in der Waldoper, sondern als Łódźer Gastproduktion in der Baltic Opera in Danzig gespielt werden. Dafür hat man in der Waldoper in diesem Jahr Puccinis «Turandot» angesetzt – die Titelpartie übernimmt die gefeierte Sopranistin Liudmyla Monastyrska. Ebenso wie im vergangenen Jahr spielt man außerdem auch diesmal wieder Wagners «Fliegenden Holländer» mit Tomasz Konieczny in der Titelpartie.

Der Bernstein-Altar in der Brigittenkirche soll noch mehr als eine Tonne zulegen © Stephan Burianek

Man darf von einem Fest für die Ohren ausgehen, immerhin erweist sich die Akustik der Waldoper während der kurzen Darbietung als erstklassig. Der originale Orchestergraben, der einen eigenen Resonanzboden aufweist, hat außerdem die Jahrzehnte überdauert – eine wahre Entdeckung, wie Konieczny betont.


Danziger Fixpunkte

Jener Vogel auf der Stele besteht hauptsächlich aus Bernstein. In Danzig (polnisch: Gdańsk) wird das fossile Harz, das vor allem bei kühlem und stürmischem Wetter an die Strände gespült wird oder auch in der Erde verborgen liegt, an vielen Stellen zum Kauf angeboten – beispielsweise hinter der Marienkirche in der schmucken Mariacka-Straße, wo sich ein Bernstein-Geschäft an das nächste reiht. Eine gute Einführung in das „baltische Gold“ liefert das Bernstein-Museum in einer ehemaligen Mühle nahe des Hauptbahnhofs. Nur wenige Schritte sind es von dort in die Brigittenkirche. Aus einem goldenen Weizenfeld sprießt dort eine zwölf Meter hohe Weinrebe hervor – die Zweige sind aus Metall, die Trauben aus Bernstein. Mehr als 840 Kilogramm Bernstein wurden bislang verarbeitet, zu 60 Prozent ist der Altar fertig, für den Rest wird aktuell gesammelt. Sollten die geplanten zwei Tonnen erreicht werden, dann hätte der hellbraun leuchtende Altar auf 120 Quadratmetern mehr Bernstein als das berühmte Bernsteinzimmer bei St. Petersburg. 

Die Brigittenkirche mag von außen eher unscheinbar wirken, zumal sie von der benachbarten Katharinenkirche überragt wird, aber für die Danziger hat sie dennoch eine große Bedeutung. Hier wurde in den 1980er-Jahren der Solidarność-Aufstand mit flammenden Reden unterstützt. Das Solidarność-Zentrum auf dem Gelände der nahen Werft, wo der Fall des Kommunismus in Polen nacherzählt wird, gehört zu den touristischen Fixpunkten der Stadt.

Der Zuschauersaal der Baltischen Oper ist nahezu schmucklos, die musikalische Qualität darin aber hoch © Stephan Burianek


Exzellente Gesangskultur

Die Oper selbst hat in Danzig keine allzu lange Tradition, auch wenn die einstige Hanse-Stadt mit Johann Daniel Pucklitz und Johann Balthasar Christian Freislich immerhin zwei Barockkomponisten aufzuweisen hat. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekam die Stadt ein Opernhaus, das sich nicht im Zentrum befindet, aber vom Hauptbahnhof mit der Straßenbahn in nur zehn Minuten zu erreichen ist. Dass der funktionale Bau der Danziger Baltic Opera nicht eigens für Opernaufführungen errichtet wurde und sein langgezogener Zuschauersaal mit ausgesessenen Polstersitzen eher wie ein Kinosaal anmutet, sollte Opernliebhaber nicht abschrecken. Denn gesungen wird in Polen selbst an „zweiten“ Häusern ganz vorzüglich, wie der Besuch einer «Carmen»-Premiere zeigt: Mit einem verführerisch tiefen Timbre und mühelosen Höhen ist nicht nur Joanna Motulewicz als Titelfigur eine ideale Besetzung. Auch Arnold Rutkowski brilliert als Don José mit einer kernigen Mittellage und strahlenden Höhen, und Gabriela Legun berührt mit vollem, samtigem Wohlklang. Am Pult organisiert der junge Musikdirektor Yaroslav Shemet mit einer idealtypischen Interpretation die musikalische Basis für eine mitreißende Produktion, die über weite Strecken zwar konventionell anmutet, mit der Verlegung der Handlung in das Spanien der Bürgerkriegszeit aber für ein behutsames Regietheater sorgt (Regie: Paweł Szkotak). Das hohe, von rein polnischen Kräften gestemmte Niveau macht Lust darauf, die polnische Opernszene besser kennen zu lernen. Das Baltic Opera Festival im Sommer wäre dafür zweifellos eine gute Gelegenheit.


Oper, Musiktheater und klassische Musik in Danzig

Das Baltic Opera Festival findet vom 20. bis 25 Juli 2024 in der Waldoper (Sopot), in der Baltischen Oper (Danzig/ Gdańsk) und in einer Werkhalle der Schiffswerft Crist (Gdynia) statt // https://balticoperafestival.pl

Die Baltische Oper (Opera Bałtycka w Gdańsku) spielt in einem funktionalen Gebäude, ungefähr zehn Straßenbahn-Minuten nördlich des Zentrums. // https://operabaltycka.pl 

Konzerte sämtlicher Musikgenres und Musicals (derzeit etwa «1989») werden im Shakespeare-Theater (Teatr Szekspirowski) gezeigt. Besonderheit: Das Dach des Zuschauerraums kann bei Schönwetter geöffnet werden. // https://teatrszekspirowski.pl 

Die Baltische Philharmonie (Polska Filharmonia Bałtycka) ist eine Konzerthalle in einem ehemaligen Elektrizitätswerk auf einer Insel inmitten der Stadt. // www.filharmonia.gda.pl