Klassik am Odeonsplatz

Der Wettergott ist Wagnerianer

Mehr als 16.000 Zuhörer kamen in München, wie jedes Jahr, in den Genuss von hochklassigen Open-Air-Konzerten – zumindest, bis der Regen einsetzte

Willi Patzelt • 15. Juli 2024

Der Münchner Odeonsplatz zwischen Marienplatz und Siegestor bietet alljährilich die Kulisse für erstklassige Konzerte © Goran Nitschke

Bis vor einigen Jahren noch hörte man auch das restliche Jahr am Odeonsplatz regelmäßig klassische Musik in den Abendstunden – freilich nicht aus großen Lautsprechen, sondern leise und wie aus der Ferne. Aus den U-Bahn-Schächten herausdringend, war nämlich auf dem Platz zwischen Residenz und Theatinerkirche der Versuch zu hören, den U-Bahnhof sicherer machen zu wollen. Will heißen: Obdachlose sollten mit Mozart vertrieben werden. Dies gilt mittlerweile als irgendwie grausam. Etwas süffisant könnte man schließen: Klassische Musik muss wohl blasiert, ja eben so richtig oberschichtig sein, um ihrem eigentlichen Zweck – der des Gesehenwerdens bei wichtigen Kulturereignissen – überhaupt Rechnung tragen zu können.

Dass diese Vorstellung von Kultur ihrerseits ganz und gar kulturlos ist, beweist man auf dem Odeonsplatz seit dem Jahre 2000. Zum Millennium feierte man dort die deutsch-französische Aussöhnung mit eindrücklichen Konzerten: Am ersten Juliwochenende spielten das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und am darauffolgenden Tag die Münchner Philharmoniker in der den Platz dominierenden Feldherrnhalle Konzerte mit Musik von Beethoven über Brahms, Berlioz, Mahler und Ravel bis zu Franz Waxmann. Schnell wurde klar, dass dieser Platz von seiner Anlage her für Open-Air-Klassik wie gemacht zu sein scheint. Ab 2002 wurde „Klassik am Odeonsplatz“ also zum alljährlichen Ereignis, stets mit einem Konzert des BRSO und einem der Philharmoniker. 


Perfekter Ort für Open-Air

Denn tatsächlich ist die Münchner Feldherrenhalle eine optimale Freiluftbühne: Im klassizistischen Stil von König Ludwig I. von Bayern in den frühen 1840er-Jahren als Denkmal für die Bayerische Armee erbaut, ist diese Loggia aus Kalkstein ein regensicherer und nach vorn geöffneter Raum, in dem sich selbst ein großes spätromantisch besetztes Orchester gut unterbringen lässt. Inspiriert von der florentinischen Loggia di Lanzi, jedoch deutlich massiver gebaut, beschließt sie den Platz von der Südseite her. Davor mündet, länglich gezogen, der Odeonsplatz in jene große Prachtstraße, die ihr künftiger Namensgeber, König Ludwig I., bei der Neugestaltung Münchens im 19. Jahrhundert als Nord-Süd-Achse bis zum Siegestor bauen ließ. 

Also steht nun vor der Feldherrenhalle ein „Schuhkarton-Konzertsaal“ – freilich aber ein nicht überdachter. Doch neben den Münchnern scheint auch der Wettergott von diesem Konzept grundsätzlich angetan zu sein. In all den Jahren musste nämlich nur ein einziges Konzert wegen Unwetters abgesagt werden. Doch gefeit ist man gegen Regenfall nie. Ein vorzeitiger Abbruch des Konzerts kündigt sich also meist durch dunkle Wolken an.


Der Wettergott – ein Wagnerianer? BRSO-Konzert durch Regen abgebrochen

Die Musiker sind unter den Arkaden der Feldherrenhalle vor etwaigem Regen geschützt © Michael Heeg

Die zogen auch in diesem Jahr bedrohlich hinter den Türmen der imposanten Theatinerkirche hervor – und das zu dies perfekt untermalender Musik. Das BRSO unter Chefdirigent Sir Simon Rattle hatte nämlich Wagners Walkürenritt mitsamt der großen Schlussszene der Oper auf den Programmzettel gesetzt, anschließend war die zweite Symphonie von Johannes Brahms geplant. Wie schön wäre es gewesen, durch diese Programmauswahl gerade bei einem populären Konzert wie „Klassik am Odeonsplatz“ begreiflich zu machen, dass der oft behauptete Gegensatz von „Wagnerianern“ und „Brahminen“ seine Existenz nicht aus der Musik gewinnt, sondern vielmehr mancher Borniertheit ihrer Rezipienten geschuldet ist.

Vielleicht ist aber auch der Wettergott Wagnerianer. Denn zu Brahms sollte es an diesem Abend nicht mehr kommen. Nur wenige Minuten dauerte es, bis sich nach Wotans Abschied der Himmel über Loges Feuerzauber ergoss. Zuvor aber hörte man wirklich großartigen Wagner, der Lust gemacht hätte auf so viel mehr. Anja Kampe als Brünnhilde und Michael Volle als Wotan überzeugten beide. Zwar liegt es an der Natur der Sache, dass die Textverständlichkeit bei mikrofoniertem Wagner leidet. Doch ansonsten war der Tontechnik ein wirklich großes Kompliment zu machen: Die Akustik ist auf dem ganzen Platz – riesigen Lautsprechern sei Dank – wirklich großartig. Und durch zwei große Videoleinwände kommt man auch noch zu manchem Detaileindruck und kann sich dem Geschehen auf der Bühne durchaus nahefühlen. 

Zur wunderbaren Stimmung trägt ansonsten auch eine wunderbare Lichtregie bei: Bei sich immer stärker einstellender Dunkelheit werden die Feldherrenhalle, zu deren Rechten die Theatinerkirche sowie zur Linken die Münchner Residenz in herrlich bunten Farben angestrahlt, die immer wieder der Musik angepasst werden. Zauberhaft, die Atmosphäre! 


Zauberhafte Philharmoniker

Zauberhaftes stellten dann am zweiten Konzerttag die Münchner Philharmoniker unter der Leitung ihres designierten Chefdirigenten Lahav Shani ohnehin in den Mittelpunkt ihres Programms: mit Webers Oberon-Ouvertüre über Paul Dukas „Zauberlehrling“ bis hin zu „Hedwigs Theme“ aus jenen Filmen über den Zauberschüler Harry Potter, zu deren künstlerischer Größe der geniale John Williams durch seine wunderbare Musik nicht unerheblich beitrug. Auch gelang ein Abend, der regenfrei ablief – zumindest bis zum Einsetzen der Zugabe. So trat der Regen auf zur Musik Darth Vaders und man fühlte sich an den Walkürenritt des Vorabends erinnert. 

Am zweiten Abend hielt das Wetter bis zur Zugabe © Marcus Schlaf

Die Solistin des Abends, Anne-Sophie Mutter, arbeitet mit John Williams seit vielen Jahren zusammen. Für sie hat Williams nicht wenige seiner Filmmusiken neu arrangiert. Mutter spielte diese Musik denn auch voller Hingabe und Ausdruck – ein wahrlich eindrückliches Erlebnis! Zudem verfiel sie bei Williams auch nicht jener zuweilen etwas ermüdend wirkenden Portato- und Vibratosucht, die Teil ihrer Interpretation von Camille Saint-Saëns „Introducion und Rondo capriccioso“ gewesen war. Lahav Shani begleitet sie mit „seinen“ Philharmonikern dienend und auf das Allereinfühlsamste. Dass er ab dem übernächsten Jahr die Chefposition bei den Philharmonikern antreten wird, ist ein großer Gewinn für München. Auch diesbezüglich setzte Shani mit Auszügen aus Stravinskys „Feuervogel-Suite“ zum Ende des Programms ein gewaltiges Ausrufezeichen. 

Ob er freilich noch den renovierten Gasteig noch in seiner Amtszeit miterleben wird? Hier ist Anne-Sophie Mutter sehr zu danken, dass sie die Möglichkeit ergriff, mit eindrücklich heftigen Worten an die Politik bezüglich dieser sich anbahnenden kulturpolitischen Blamage zu appellieren!


Eine wahrlich münchnerische Veranstaltung

Tatsächlich haben sich die bayerische Landeshauptstadt und der Freistaat Bayern durch die ständigen Querelen um die Münchener Konzertsäle in den Feuilletons der Nation immer wieder zum Objekt von Häme und Unverständnis gemacht. Möge diese Zeit bald zu Ende gehen. Bis dahin – und hoffentlich darüber hinaus – kann man sich ganz besonders über so einzigartige Formate wie „Klassik am Odeonsplatz“ freuen. 

Denn so gelingt es München, im Juli alljährlich zu beweisen, dass klassische Musik eben nicht per se blasiert oder Kultureliten vorbehalten ist. Und wenn St. Petrus noch mitspielt, ist hier wirklich hochgradig Schönes zu erleben. Eindrücklich ist darüber hinaus allerdings: Ein Halbe Bier kostet neun Euro inklusive Pfand, das in Konkurrenz zu Tausenden von Gleichgesinnten sich zurückzuholen man sinnvollerweise unterlässt, und damit mehr als auf dem Oktoberfest. Alles in allem also eine wahrlich münchnerische Veranstaltung. Aber dennoch: Hier ereignet sich Großartiges. Also kommen – gleich im nächsten Jahr!