Nachruf

Das Wuchern der Klänge

Zum Tod des deutschen Komponisten Wolfgang Rihm (13. März 1952, Karlsruhe - 27. Juli 2024, Ettlingen)

Edwin Baumgartner • 28. Juli 2024

Der Komponist Wolfgang Rihm in Venedig im Jahr 2010. Er war eine Erscheinung, die fehlen wird © Universal Edition / Eric Marinitsch

Der Körperbau der eines Riesenbabys, die Gesichtszüge die eines Professors: Physik, Mathematik – beides immerhin Schwestern der Musik. Wolfgang Rihm war eine markante Erscheinung. Als Mensch, wenn er sich überwinden konnte, die Stille seines Zuhauses zu verlassen, um zu unterrichten, um Uraufführungen seiner Werke beizuwohnen; als Intellektueller, dessen Essays von einer Schärfe des Verstandes und einer Präzision der Formulierung zeugen, die man selbst bei Philosophen oft vergebens sucht; schließlich als Schöpfer eines Gesamtwerks, das mit mehr als 500 Kompositionen in allen Genres zu den umfangreichsten und dennoch gehaltvollsten der gesamten Musikgeschichte zählt.

Über seine Krebserkrankung, mit der er seit Jahren lebte, hat er offen gesprochen, auch über die Begegnung mit seiner Endlichkeit, der er ungehemmte Lebensfreude abtrotzte. Am 27. Juli ist Wolfgang Rihm in einem Hospiz in Ettlingen im Alter von 72 Jahren gestorben. 

Rückblende – wie viele Jahre? Um die 40 wohl. Szenerie: Der Große Sendesaal im damaligen ORF-Funkhaus in der Argentinierstraße. Auf dem Programm drei Komponisten der sogenannten Neuen Einfachheit: Hans Jürgen von Bose, Wolfgang von Schweinitz, Wolfgang Rihm. 

Das große Lästern im Publikum, das an diesem Aufführungsort auf zwölftönige Avantgarde eingeschworen ist. Man wird doch nicht gar Tonales hören? Mit echten Dreiklängen gar? Der greise Ernst Krenek hatte zuvor (oder war es knapp nach dem Konzert?) in einer der Radiosendungen, in der Hörerinnen und Hörer anrufen konnten, auf die Frage, wie er es mit der Neuen Einfachheit halte, gehöhnt, er bleibe lieber bei der alten Kompliziertheit. 

Doch der schlagwortartige Begriff stellt sich als so falsch heraus, wie schlagwortartige Begriffe nun einmal sind. Wenn schon, dann wäre „Neue Direktheit“ besser gewesen.

Rihm vor allem: Seine Lehrer Wolfgang Fortner und Humphrey Searle hatten auch ihn auf den zwölftönigen Weg geführt. Aphoristische Klavierstücke in der Nachfolge Anton von Weberns und eine Sinfonie waren die Folge gewesen. Doch dann hatte Rihm die Musik von Edgard Varèse entdeckt: Bei ihm entdeckte er, dass Neue Musik und unmittelbare Wirkung einander nicht zwangsläufig ausschließen. Rihm übernahm die blockhafte Gestik, den hohen Grad an Dissonanz, die allerdings klanglich fein ausgehört und abgestuft ist, die Freiheit der Themen- und Melodiebildung und der Formengestaltung und fügte ein lyrisches Moment von hoher Spannung hinzu.

Die Musik, die Rihm komponierte, war nun tatsächlich neu in dem Sinn, dass sich eine Persönlichkeit in ihr auf noch nie dagewesene Weise ausdrückte. Die Fachwelt rümpfte die Nase, Karlheinz Stockhausen, ein Lehrer Rihms auch er, mokierte sich. Das Publikum hingegen war auf der Seite des Komponisten, der, ja, gewiss, schon ziemliche Verrücktheiten schrieb, aber letzten Endes waren das tolle Klangerlebnisse: Manchmal geradezu aufpeitschend wie im Tanzpoem „Tutuguri“ mit seinen orchestralen Explosionen und dem Toben von zehn schließlich solistisch agierenden Schlagzeugern, manchmal filigrane Erforschungen von Grenzbereichen der Psyche wie in der Kammeroper «Jakob Lenz» (1977/78), die sich als eines der wenigen Bühnenwerke der Musik nach 1945, zumal der im deutschsprachigen Raum komponierten, ins Repertoire einschreibt.

Im Musiktheaterwerk «Die Hamletmaschine» (1983-86) kommt Rihm den Vorstellungen seines Lehrers Stockhausen in Bezug auf ein nicht-erzählendes quasi-kultisches Musiktheater näher als in irgendeinem anderen Werk. Doch Rihm vermeidet die spekulative Haltung. Statt musikalischer Predigten komponiert er ein Werk, das den Zuschauer das Unbegreifbare ahnen lässt. 

«Oedipus» (1987) setzt die Handlung wieder in ihr Recht, verrätselt sie jedoch – und enträtselt sie zugleich, indem er immer neue Bedeutungsschichten bloßlegt. Das Orchester verzichtet auf Streicher (mit Ausnahme zweier Soloviolinen) und gebiert einen scharf dissonanten Klang, den Rihm selbst so beschreibt: „Der Klang ist hier Waffe – oder Skalpell?“

In «Die Eroberung von Mexiko» (1992) greift Rihm, wie schon zuvor in „Tutuguri“, auf ein Bühnenkonzept Antonin Artauds zurück: Wie in «Oedipus» findet die allgemein bekannte Handlung, nämlich der Untergang des Aztekenreichs, zwar statt, nicht jedoch als verbale Kommunikation zwischen den handelnden Personen, denen viel phonetisches Material zugewiesen ist, die allerdings auch dann, wenn sie konkrete Texte singen, kaum verständlich sind: Rihms Oper will mit ihren aufpeitschenden Rhythmen und massiven Attacken des in Gruppen aufgesplitterten Orchesters nicht den Verstand ansprechen, sie will überwältigen. 

Vielleicht war Rihm bewusst, dass er in «Oedipus» und «Die Eroberung von Mexiko» Extrembereiche ausgelotet hat, deren Wiederholung eine Selbstkopie bedeuten würden – was ohnedies die Hauptgefahr für alle schnell und viel schreibende Komponisten ist. So könnte «Séraphin» (1993/94) durchaus als Flucht in die (freilich abermals nicht einfach linear erzählte) Kammeroper sein, während die monodramatische „nächtliche Szene“ «Das Gehege» (2004/05) mit dem Text der Schlussszene von Botho Strauss‘ «Schlusschor» zwar wieder, in diesem Fall erotische, Abgründe auslotet, nun aber auch den schwelgerischen Schönklang zumindest partiell zurückgewinnt: Stellenweise scheint Richard Strauss wesentlich näher als die freilich vorhandenen, doch zurückgedrängten Dissonanzenkaskaden von Rihms früheren Werken. 

«Dionysos» ist dann eine vielschichtige Oper, die entlang der „Dionysos-Dithyramben“ des als handelnde Person auftretenden Friedrich Nietzsche autobiografische Elemente mit Grausamkeit und Komik vermischt. Die Musik reflektiert Wasser und Wind und macht kein Hehl daraus, schön klingen zu wollen. Die Uraufführung 2010 fand am richtigen Platz statt: bei den von Richard Strauss mitbegründeten Salzburger Festspielen. 

«Eine Straße, Lucile» (2011) schließlich ist ein ausgreifender Monolog aus Georg Büchners „Dantons Tod“; der Uraufführung folgte eine Produktion der Oper Gottfried von Einems, die sich im Zusammenhang als das kraftvollere, weniger rückschauverliebte Werk erwies.

So wäre am Schlagwort von der „Neuen Einfachheit“ letzten Endes dann doch etwas dran? Nicht wirklich. Denn was auch in Vokal- und Kammermusik und Orchesterwerken scheinbar einfach und berückend schön nach sehnsuchtsvoll neu modellierter Romantik klingt, ist minutiös durchgearbeitet. Das Publikum mag es aus dem Bauch heraus hören, aus dem Bauch heraus komponiert ist es dennoch nicht. 

Obwohl auch das unter den vielen Vorwürfen ist, die man Rihm machte: Seine leichte Hand, sein, es sei offen ausgesprochen, Vielschreibertum schien der gedanklichen Tiefe entgegenzustehen. Doch wehe dem, der solch einen Vorwurf gegen einen Mozart erheben würde.

Freilich: Da kursierte etwa die Anekdote, dass Rihm aus einem Stück zwei machen würde, indem er, seine blockhaften Formen machen es möglich, die linken Partiturseiten eines bereits geschriebenen Werks lediglich mit neuen rechten Seiten versehen würde.      

Doch es ist ebenso eine Tatsache, dass Rihm sich den Ablenkungen des modernen Alltags konsequent entzog. Selbst den Computer verweigerte er und schrieb Texte am liebsten mit der Hand. „Die einzige Anregung, um die ich bitte, ist in Ruhe gelassen zu werden“, sagte er. Die Stille um ihn war der Resonanzraum, in dem seine Musik entstehen, in dem sie wuchern konnte, ohne dass er sich um Richtungen, Ablehnungen, Zustimmungen kümmern musste.  

Die Überfülle seines Schaffens mag im Moment noch den Blick auf das Wesentliche verstellen, das bleiben kann. Doch dass etwas bleiben wird von Wolfgang Rihm kann als sicher gelten. 

Er war eine einzigartige Erscheinung. Er fehlt.
 


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