Accademia Chigiana

Festival mit Sicherheitsnetz

In Kooperation mit der Universität Mozarteum Salzburg realisierten Nachwuchstalente in Siena zwei hochklassige Aufführungen von Brittens «The Turn of the Screw»

Stephan Burianek • 19. August 2024


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Jeden Sommer treffen im Seneser Palazzo Chigi-Saracini rund vierhundert Musikstudenten auf namhafte Lehrer, um an ihrer Technik zu feilen und Konzerte zu geben © Accademia Chigiana

Sie habe sich an diesem Tag in Siena endlich den Dom ansehen können, sagt Sveva Pia Laterza am Premierenabend. Ihr großer Auftritt als Miles in Benjamin Brittens «The Turn of the Screw» ist erst für den nächsten Tag geplant, an diesem Abend singt eine andere Besetzung. Nach der Premiere werden Sveva und ihre Kollegin Barbara Cadei auf die Frage, ob sie ein wenig neidisch wären auf jene Kolleginnen, die es bereits hinter sich hätten, entschieden den Kopf schütteln: „Nein, das ist die perfekte Einstimmung. Wir spüren jetzt, wie das Adrenalin hochkommt!“

Zu diesem Zeitpunkt liegen drei intensive Arbeitswochen hinter den beiden jungen Sängerinnen. Sie waren von der altehrwürdigen Accademia Chigiana in Siena für eine Opernklasse mit Kai Röhrig (Dirigat) und Florentine Klepper (Regie) ausgewählt worden, die in Kooperation mit der Universität Mozarteum Salzburg realisiert wurde. Zugleich besuchten sie die Meisterklasse von William Matteuzzi, die der Tenor seit Jahren an der Accademia anbietet. Am Ende der beiden Sommerklassen steht eine inszenierte Opernproduktion mit dem Orchester der Uni Mozarteum.


Meisterklassen im Palazzo

Die Accademia Chigiana hat in der italienischen und internationalen Klassikszene eine einzigartige Stellung. Seit dem Jahr 1932 treffen im historischen Palazzo Chigi-Saracini – der in seinen Räumen eine unglaubliche Kunstsammlung aufweist, die gegen Voranmeldung auch unmusikalischen Besuchern gezeigt wird – allsommerlich erstklassige Musiker und Komponisten auf Studenten. Hier begann unter Alfredo Casella, dem ersten Leiter der Accademia, die Vivaldi-Renaissance, und im schmucken Konzertsaal wurden Werke u.a. von Maurice Ravel, Sergei Prokofjew, Manuel da Falla und Paul Hindemith uraufgeführt. Bis heute unterrichten im Sommer namhafte Dozenten während man unter dem Jahr eine Konzertreihe unterhält und im Winter mit Symposien außerdem eine wissenschaftliche Funktion erfüllt.

Als vor zehn Jahren die Existenz der Accademia Chigiana wegen finanzieller Turbulenzen gefährdet war, verordnete der Komponist und Kulturmanager Nicola Sani der Institution ein neues Konzept, das sich längst bewährt hat: Die von der Accademia bis dahin veranstaltete einwöchige Festivalwoche, die in keinem Zusammenhang mit den Sommerkursen gestanden war, wurde mit den Meisterklassen verbunden. Seither geben die Dozenten und ihre Schüler im Rahmen des zweimonatigen Chigiana Festivals täglich Konzerte hauptsächlich im Konzertsaal des eigenen Palazzos, aber auch an vielen anderen Orten innerhalb und außerhalb der Stadt. 

Das von außen unscheinbare Teatro dei Rozzi ist eine von zahlreichen Spielstätten des Chigiana Festivals © Stephan Burianek

In diesem Sommer verantworten rund 400 Studenten aus dreißig Kursen und sieben Workshops sowie 32 Dozenten mehr als hundert Konzerte. „Obwohl wir heute nur zwei Drittel des einstigen Budgets haben, produzieren wir hundert Mal mehr“, sagt Sani im Gespräch mit OPERN·NEWS. Auch interessant: Während viele Nachwuchstalente weltweit Meisterklassen besuchen, die tausende Euro kosten, belaufen sich die Ausgaben für die Chigiana-Studenten, die in der Regel bereits einen Bachelor-Abschluss vorzuweisen haben, im Wesentlichen auf die Reisekosten und Ausgaben vor Ort.

In diesem Sommer werden sogar drei Opernproduktionen gezeigt. Eine davon war Brittens Geisteroper «The Turn of the Screw» in einer Inszenierung von Florentine Klepper, die vor anderthalb Jahren an der Uni Mozarteum entstand und die den Vergleich zu professionellen Opernhäusern nicht zuletzt wegen der effizient-effektiven und der in ihrer Ästhetik ansprechenden Ausstattung von Selina Schweiger nicht zu scheuen braucht. „Für uns bietet diese Kooperation die Möglichkeit der internationalen Vernetzung, und für unsere Studierenden hat sie ohnehin nur Vorteile“, sagt Kai Röhrig, der mit jungen Musikern aus dem Orchester der Uni Mozarteum anreiste. 


Drill in der Gesangsklasse

Die im Jahr 1954 am Fenice in Venedig uraufgeführte Britten-Oper verlangt zwar lediglich ein Kammerorchester und sechs Solisten, ist aber dennoch eine Herausforderung. Ihre Tempi sind unbarmherzig, und wer seinen Einsatz verpasst, der hat bereits verloren. Zudem wechselt der musikalische Ausdruck mitunter schlagartig. Eine Herausforderung war für viele Studenten auch der dichte Zeitplan. Der erste Arbeitstag habe acht Stunden gedauert, erzählen sie, und das war keine Ausnahme. „Daran müsst Ihr Euch gewöhnen“, soll der in Bologna geborene Matteuzzi, der sich selbst einen „Deutschen unter Italienern“ nennt, gesagt haben. Das Singen sei eben ein harter Job: „Wenn ein Dirigent verlangt, dass Sie ein und dieselbe Stelle zehnmal wiederholen, dann haben Sie das zu tun.“ 

Hinzu kam, dass die Studenten neben der Opernproduktion auch noch an Konzerten mitzuwirken hatten: „Ich dachte ursprünglich, dass sich die Meisterklasse ausschließlich mit der Britten-Oper beschäftigen würde“, so Barbara Cadei, und Sveva Pia Laterza ergänzt: „Man muss erst lernen, so kurz hintereinander unterschiedliches Repertoire zu singen: Britten in der Früh, dann Fauré und Puccini. Speziell das französische Repertoire unterscheidet sich technisch stark.“

Julia Maria Eckes (Mrs. Grose) und Anna Maria Husca (Gouvernante) sind Studentinnen an der Uni Mozarteum - und reif für die Opernbühnen der Welt © Daniela Neri

Abgeschreckt hat das freilich niemanden. Sämtliche Sänger und Sängerinnen, die mit OPERN·NEWS gesprochen haben, bestätigen: Der Opern- und Gesangskurs hilft ihnen, einen professionellen Zugang zur angepeilten Sängerkarriere zu finden: „Matteuzzi hat mich gelehrt zu fokussieren und hart zu arbeiten. Bislang folgte ich ehrlich gesagt vor allem meinem Instinkt und habe mich meinen Aufgaben oft erst im letztmöglichen Moment gewidmet“, sagt beispielsweise Lucia Pagano, die in den vergangenen Jahren bereits zweimal am Barockgesang-Kurs von Andreas Scholl teilgenommen hat und die in der Britten-Oper den Geist der Miss Jessel singt. 


Wertvolle Erfahrung

Für sie ist es die erste Opernproduktion überhaupt, denn nicht jedes Konservatorium bietet diese Möglichkeit, wie auch Sveva Pia Laterza bestätigt, die in Ravenna gerade erst ihren Bachelor erlangt hat: „Ich weiß, dass ich jung bin und besser werden muss, ich brauche so viel Opernerfahrung wie möglich. Man muss erst lernen, ein ‚richtiger‘ Künstler zu sein.“ Der US-Amerikaner Joseph Alexander Allmark erklärt seine Motivation ähnlich: „Meine erste Gesangslehrerin hat oft über Benjamin Britten gesprochen, er begleitet mich also schon lange. Dass er in Italien gespielt wird, ist rar. Ich habe auch noch nicht viel Bühnenerfahrung.“

Andere standen schon öfter in Opernproduktionen auf der Bühne: Angelica Lapadula, die ebenfalls Miss Jessel singt, konnte sich am Konservatorium in Alexandria (zwischen Mailand und Turin) bereits ein ansehnliches Repertoire aufbauen, hat aber erst im vergangenen Jahr beschlossen, das Singen zum Beruf zu machen. „Als ich mich bewerben wollte, wurde ich krank und dachte, ich könne in diesem Zustand kein Bewerbungsvideo aufnehmen, aber mein Freund drängte mich dazu, und ich wurde genommen.“ Auch die Französin Clara Hugo, die in Leipzig studierte und bereits mehrere Kurse in Italien hinter sich hat, war schon in mehreren Uni-Produktionen zu sehen, nach dem Abschluss ihrer Ausbildung aber zugleich auf der Suche nach einer „technischen Heimat“, wie sie sagt. Die Gouvernante in der Britten-Oper ist ihre erste Hauptpartie.

Für die meisten Teilnehmer ist es die professionellste Produktion, an der sie bislang mitgewirkt haben. Auch vom Dirigenten Kai Röhring und der Regisseurin Florentine Klepper zeigen sich die Sänger angetan: „Natürlich sind die beiden fordernd, aber zugleich bestärken sie uns in dem, was wir tun“, sagt Lapadula, und Cadei ergänzt: „Man ist in einer professionellen Umgebung mit Sicherheitsnetz.“ – „Ja, man wird hier nicht gedemütigt“, wirft Hugo ein. Und Julia Maria Eckes fasst zusammen: „Man merkt einfach, dass die beiden nicht nur ernsthafte Künstler, sondern eben auch Lehrer sind. Florentine Klepper ist noch relativ neu an der Uni Mozarteum, aber sie ist die menschlichste, bodenständigste und herzlichste Regisseurin, die man sich wünschen kann.“ Eckes muss das wissen, denn sie studiert selbst an der Uni Mozarteum. Sie ist eine von zwei Sängerinnen, die vor anderthalb Jahren bereits in der Originalproduktion mitgewirkt hat. Für sie ist die Wiederholung ebenfalls eine gute Erfahrung: „Meine Stimme hat sich seither weiterentwickelt, jetzt passt sie besser für diese Partie. Und nachdem Mrs. Grose eine ältere Figur ist, werde ich sie hoffentlich noch lange singen können.“   


Professionelle Aufführungen

Die zweite Besetzung stand der ersten nicht nach - von links nach rechts: Clara Hugo beeindruckte in ihrer ersten Hauptpartie als Gouvernante, Sveva Pia Laterza gestaltete den Miles ideal, und Barbara Cadei gab als Flora ein gelungenes Debut © Daniela Neri

Man hatte zunächst ein wenig gebangt, ob sich auf eine Britten-Oper überhaupt ausreichend Studenten bewerben würden, sagt Kai Röhrig während einer Orchester-Hauptprobe im Teatro dei Rozzi, „doch dann waren es weit mehr als wir nehmen konnten, wodurch wir eine ziemlich gute Auswahl treffen konnten“. 

Das Teatro dei Rozzi ist ein altes Logentheater im Herzen von Siena, nur wenige Schritte von der berühmten Piazza del Campo entfernt, die zur Zeit der Orchesterproben bereits für das berühmte Pferderennen, den Palio, geschmückt ist. Von außen ist es als Theater kaum zu erkennen, und innen wartet es mit einer Besonderheit auf: Das Parkett befindet sich nicht im Erdgeschoß, sondern im ersten Stock. Dieser Umstand ist auf die „Rozzi“ zurückzuführen, eine Vereinigung von Seneser Bürgern, deren altehrwürdige Club-Räumlichkeiten bis heute eben im Piano Nobile (und eben nicht zu ebener Erde) an das Theater angrenzen. Auf die Künstler im Rozzi-Theater nimmt übrigens die Verdi-Oper «Falstaff» Bezug: „Siete dei rozzi artisti“, singt Falstaff bald nach dem Beginn der Oper, was oft mit „rohen“ oder „dilettantischen“ Künstlern übersetzt wird.

Von Dilettantismus kann indes weder am Tag der Premiere, an der die erste Besetzung zum Zug kommt, noch am darauf folgenden Abend die Rede sein. In der Hauptpartie der Gouvernante meistert zunächst Anna Maria Husca – die ebenso wie Eckes an der Uni Mozarteum studiert und zum zweiten Mal in dieser Inszenierung zu erleben ist – mit guter Stamina die hohen Melodiebögen ebenso schön und problemlos wie die dramatischen Ausbrüche ihrer Figur.

Die Inszenierung von Florentine Klepper gibt ihr in szenischer Hinsicht zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten, denn in Kleppers Sichtweise wird aus der gutmütigen Gouvernante, die zwei Kinder vor mysteriösen Geistern beschützen möchte, eine höchst problematische Figur. Klepper macht aus der Geistergeschichte gleichsam eine Geistesgeschichte, bei der die Erscheinungen ihrer Vorgängerin und des ominösen Mr. Quint hauptsächlich im Kopf der offenbar geisteskranken Gouvernante existieren (wiewohl Klepper den sexuellen Missbrauch der Kinder in der Vergangenheit sehr wohl andeutet) – und die ihren Schützling Miles letztlich im Wahn erwürgt.

In der Premiere macht zudem die junge ukrainische Sopranistin Sofiia Nosenko als klangschöner Miles neugierig auf ihre Zukunft, Angelica Lapadula liefert eine souveräne Miss Jessel, und dass die herrlich voll tönende Julia Maria Eckes als Haushälterin Mrs. Grose stimmlich angeschlagen ist, merkt nur, wer mit ihr zuvor gesprochen hat.

Lucia Pagano (hinter dem Vorhang) verführte als Miss Jessel nicht nur simmlich. Im Vordergrund: Barbara Cadei als Flora © Daniela Neri

Am Folgetag steht die zweite Besetzung der ersten um nichts nach. Interessant ist u.a. der Vergleich der beiden Mr. Quints: Klang der Geist des verstorbenen, ehemaligen Dieners durch Joseph Alexander Allmark tags zuvor noch verführerisch lyrisch, gerät er am zweiten Abend durch Paolo Mascari stimmgewaltig furchteinflößend. Nach einer phänomenalen Generalprobe liefert Clara Hugo bei der eigentlichen Vorstellung immer noch eine beeindruckende Interpretation der Gouvernante. Als kraftvolle Mrs. Grose überzeugt außerdem Zuzanna Maria Klemańska, eindrücklich gestaltet Sveva Pia Laterza den Miles, und Lucia Pagano ist nicht nur stimmlich eine verführerische Miss Jessel.

Als erstklassig erweisen sich an beiden Abenden die Musiker der Universität Mozarteum. Sie haben in diesem Werk eine Vielzahl an solistischen Parts zu absolvieren, und man käme nicht auf die Idee, dass es sich bei ihnen noch um Studenten handelt. Dass der Klang in Ermangelung eines Orchestergrabens sehr direkt daherkommt, irritiert nur kurz zu Beginn. 

Im kommenden Jahr wird man in Siena voraussichtlich wieder in Kooperation mit der Universität Mozarteum an einer Inszenierung arbeiten, was dann nicht nur für Klassik- und Opernfreunde ein Geheimtipp sein wird. Bis dahin sollten Casting-Direktoren und Intendanten jedenfalls bei der Accademia Chigiana die «Turn of the Screw»-Mitschnitte anfordern – bzw. die Sängerinnen Husca, Eckes, und Hugo unbesehen zu einem Vorsingen einladen. 


«The Turn of the Screw» – Benjamin Britten
Accademia Chigiana / Chigiana Festival · Teatro dei Rozzi

Bericht der Generalproben und Aufführungen vom 7. bis 10. August

Weitere Opernproduktion in Koproduktion mit den Musiktheatertagen Wien: 
«The Butterfly Equation» von Thomas Cornelius Desi im Teatro dei Rinnovati am 24. August