Haydneum Eszterháza Festival
Zu Besuch in Haydns goldenem Käfig
Das ungarische Nationalinstitut für Alte Musik, das Haydneum, veranstaltet auf Schloss Eszterháza zum zweiten Mal ein zukunftsträchtiges Festival
Stephan Burianek • 02. September 2024
Wer das prächtige gusseiserne Tor von Schloss Eszterhazá im ungarischen Fertöd durchschreitet und in den Ehrenhof tritt, der wird kaum glauben können, dass dieser prächtige Gebäudekomplex, der ebenso wie das Wiener Schloss Schönbrunn Anleihen an Versailles genommen hat, einst lediglich als Sommersitz einer Familie gedient haben soll. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Jagdschlösschen mit „nur“ 22 Zimmern errichtet und später um die Seitenflügel sowie um ein Opernhaus und ein Marionettentheater erweitert, zählt es zweifellos zu den bedeutendsten Orten der Musikgeschichte. Von den Metropolen der damaligen Zivilisation und somit von den allgemeinen Entwicklungen in der Musik losgelöst, musste Joseph Haydn hier notgedrungen, mehr noch als im Esterhazy-Hauptsitz in Eisenstadt, „original“ werden, wie der Komponist selbst einmal schrieb. Dass er die Monate am Neusiedlersee, an dessen Südufer das Schloss damals noch lag, eher als Gefängnis denn als Ort der Inspiration empfunden haben soll, ist seiner Musik jedenfalls nicht anzumerken.
An der Fassade des Hauptgebäudes fallen dem Besucher sogleich drei Fenster in der Form von Violinkörpern ins Auge. Dahinter befindet sich mit dem prächtigen Apollo-Saal mit ziemlich großer Sicherheit der Uraufführungsort mehrerer Haydn-Symphonien und -Kammermusikwerke. Bereits seit vielen Jahren dient er regelmäßig als Spielstätte für Klassikkonzerte. Auch der Adel ist wieder eingezogen: Ein betagter Spross der Esterhazy-Familie mit neun Vornamen bewohnt seit einigen Jahren einen Flügel des Schlosses, das sich im ungarischen Staatseigentum befindet, und wenn im Apollo-Saal das Eröffnungskonzert des zweiten Haydneum-Festivals stattfindet, dann stellt man dem „Herzog“ mit einem bequemen Ohrensessel gleichsam einen eigenen Thron in die erste Reihe.
Inseldrama unter Apollon
Nach «L’infedeltà delusa» (Die vereitelte Untreue) im vergangenen Jahr (siehe Ein Festival im Geiste Haydns) brachte man nun mit «L'isola disabitata» (Die wüste Insel) in konzertanter Form eine weitere Haydn-Oper, die am Schloss Eszterhazá uraufgeführt worden war. Das war im Jahr 1779. Weil das Opernhaus kurz zuvor abgebrannt war, erfolgte die Uraufführung unmittelbar gegenüber im Marionettentheater. In dessen alten Gemäuern hat man vor wenigen Jahren erneut ein Theater eingerichtet, doch der Apollo-Saal – der Gott der Künste fährt an der Decke in einem Streitwagen von der Finsternis ins Licht – soll sich laut György Vashegyi, dem künstlerischen Leiter des erst 2021 gegründeten Haydneums, akustisch einfach besser eignen. Vashegyi ist ein Pionier der Alten Musik in Ungarn, der nach der Wende den Purcell-Chor und das historisch informierte Orfeo Orchestra – nun das Hausorchester des Haydneums – gründete.
Im Apollo-Saal stellte Vashegyi bereits bei der Ouvertüre eine mitreißende Dramatik über transparente Finesse. Kraftvoll „rockte“ er vor allem im Vivace-Thema, und wiewohl er die übrigen Abschnitte durchaus dynamisch abstufte, blieb der Grundtenor bis zum Ende der Oper packend kraftvoll. Dieser Ausdruck setzte sich bei Costanza, der enttäuschten Männerhasserin, fort. Immerhin ist ihr der Bräutigam abgehauen, denkt sie in dieser Oper, und nun hockt sie seit dreizehn Jahren gemeinsam mit ihrer Schwester Silvia auf dieser einsamen, eben wüsten Insel. Marianne Beate Kielland legte die Wut dieser Figur stimmlich eindrucksvoll um. Bereits in ihrer ersten, von lyrischen Melodiebögen dominierte Arie – „Se non piangere un‘infelice“ (Wenn eine Unglückliche nicht weint) – machte sie das bemitleidenswerte Schicksal wie die charakterliche Schönheit ihrer Figur auf wunderbare Weise erlebbar. Im hohen Forte verstärkte zudem vor allem gegen Ende ein silbriges Flirren die Wirkung, etwa als in der Oper unvermittelt Constanzes Mann Gernando vor ihr stand. Der war mit Márton Komáromi durchaus passabel besetzt, wiewohl sein Tenor vor allem im Forte wunderbar trägt, dann aber kraftvoll Wohlklang verbreitet.
Ungemein kernig und klangschön in allen Lagen tönte indes der Bariton von Szilveszter Szélpál als Enrico, dem der Apollo-Saal unüberhörbar zu klein war – war es Zufall, dass ausgerechnet bei seinem Gesang einer Geigerin eine Darmseite wegsprengte? Auch mimisch überzeugte das erste bewusste Aufeinandertreffen von Silvia und Enrico: Ella Smith warf ihm als Constanzes Schwester Silvia kokette Blicke zu, die in weinerliche Verzweiflung umschwenkten, als Silvia erfuhr, dass Enrico einer dieser verrufenen Männer ist. Stimmlich mischten sich metallische Einsprengsel in Smiths schlanken, klaren Sopran.
War es Ergriffenheit, war es Unbedarftheit – oder die für Ende August ungewöhnlich tropischen Temperaturen: Nur selten wurde nach den Arien geklatscht, dafür aber – eine ungarische Tradition – herzhaft rhythmisch nach dem Ende.
Mehr als „nur“ Haydn
Das Haydneum, an dessen Gründung György Vashegyi maßgeblich beteiligt war, steht als ungarische Nationalinstitution für Alte Musik mit Sitz in Budapest, wo im November ebenfalls ein kurzes Festival veranstaltet wird, für weit mehr als „nur“ Joseph Haydn. Sämtliche Kompositionen der Alten Musik und bis zur frühen Romantik auf ungarischem Gebiet, wozu in Ungarn eben auch das ehemalige Herrschaftsgebiet der Esterhazys gezählt wird, sollen erforscht, gespielt und digital archiviert werden. Das betrifft zudem die Handschriften von Michael Haydn, die einen wichtigen Teil der in der Nationalbibliothek in Budapest untergebrachten Manuskripte-Sammlung der Esterhazy bilden. Als großes Anliegen nennt Vashegyi im Gespräch mit OPERN·NEWS zudem das Werk des Fux-Schülers Gregor Joseph Werner (1693-1766), der Haydns Vorgänger am Hof der Esterhazys war. „Er war ein großer Komponist, der den Wiener Barockstil pflegte und länger als Joseph Haydn im Dienste der Familie Esterhazy stand. Haydn und Werner haben fünf Jahre lang gemeinsam am Esterhazy-Hof gearbeitet, und Haydn hat seinen Vorgänger sehr geschätzt und seine Werke studiert.“ In Budapest sind rund 340 Bände von Werner-Manuskripten archiviert. Eine Aufnahme von Werners Oratorium «Der gute Hirt», die Vashegyi mit dem Orfeo Orchestra im Jahr 2019 in Budapest realisierte, ist im Label Accent erschienen.
Die Komponisten mit Ungarn-Bezug werden in den Haydneum-Konzerten aber auch in einen internationalen Kontext gesetzt, wie das Konzert des großartigen Capricornus Consort Basel am zweiten Abend gezeigt hat. Komponisten wie der Niederländer Unico Wilhelm van Wassenaer (1692-1766), der in München wirkende Italiener Giovanni Battista Ferrandini (ca. 1710-1791) und auch der in Mannheim tätige Mähre Franz Xaver Richter (1709-1789) sind bislang wohl nur Insidern bekannt. Das demokratisch und ohne Frontmann oder -frau agierende Capricornus Consort Basel machte klar, wie ungerecht das ist. Wassenaers B-Dur Concerto Armonico Nr. 2 für vier Solo-Violinen und Basso continuo, zum Beispiel, wurde früher für ein Werk von Pergolesi gehalten. Und Ferrandinis nicht minder schöne Kantate «Il pianto di Maria» (Marias Trauer) schrieb man lange Zeit dem großen Händel zu – vielleicht, weil es ähnlich ansetzt wie dessen berühmtes „Ombra mai fu“ (wofür sich Händel wiederum beim Kollegen Antonio Bononcini bedient hat). Schade war in Fertöd nur, dass sie von der Mezzosopranistin Olivia Vermeulen recht eintönig und ohne im Ausdruck zwischen der Erzählerin und der trauernden Maria unterscheidend dargebracht wurde. Das Capricornus Consort Basel beendete den Abend mit einer Zugabe von Christoph Graupner (1683-1760), dessen Werke das Ensemble in der Vergangenheit ebenso eingespielt hat wie Transkriptionen von Bachs Orgelwerken.
Man sollte Fertöd nicht verlassen ohne sich auch die rekonstruierten Wohn- und Repräsentationssäle angesehen zu haben. Seit den 1960er-Jahren, als sich das Schloss – auch nach einer achtmonatigen Besetzung durch die Sowjetarmee – in einem ruinösen Zustand befand, wird es schrittweise wieder in seinen originalen Zustand versetzt. Originell sind vor allem die von chinesischen Porzellanmalereien inspirierten Wandzeichnungen und die lackierten chinesischen Wandpaneele im ehemals fürstlichen Arbeitszimmer, auf dem u.a. die Heimkehr der Heldin Mulan abgebildet wurde. Zuletzt eröffnete die Gemäldegalerie, wiewohl die ursprüngliche Esterhazy-Sammlung in die Welt zerstreut wurde und daher als verloren gelten kann. Zu sehen sind stattdessen Kopien von Werken großer Meister, etwa der berühmten Gemälde von Tintoretto und Velázquez. Außerdem soll es tatsächlich Pläne für eine Rekonstruktion des Opernhauses geben, an dessen Stelle sich aktuell ein Rosengarten befindet. Die Wiedererweckung des Schlosses Eszterháza ist demnach noch lange nicht abgeschlossen, und die Arbeit des Haydneums als ungarisches Zentrum für Alte Musik hat gleichsam erst begonnen. Zumindest in dieser Hinsicht können sich Musikliebhaber auf eine spannende Zukunft freuen.
«L'isola disabitata» (Die wüste Insel, konzertant) – Joseph Haydn
Haydneum Eszterháza Festival · Schloss Eszterháza / Apollo-Saal (Apolló-terem)
Kritik der Aufführungen am 30. und 31. August
Das Haydneum Eszterhaáza Festival läuft bis zum 7. September. Das Haydneum Herbstfestival findet vom 7. bis 10. November in Budapest statt.