Krzyżowa Music
Musik als Flügelschlag
Seit zehn Jahren leben Musiker und Gäste eines Kammermusikfestivals in einem niederschlesischen Dorf den Wunsch nach einem nachbarschaftlich geeinten und friedlichen Europa
Susanne Dressler • 14. September 2024
Zwei aufgeregte Hühner flattern über die schlaglochübersäte, schmale Straße, ein dünnes getigertes Kätzchen flüchtet unter eine Gartenhecke. In Krzyżowa leben rund 200 Einwohner, und ziemlich wahrscheinlich würde man über die Ansiedlung keinen Eintrag in Wikipedia finden, wenn hier nicht Geschichte geschrieben worden wäre. Mittelpunkt des Dörfchens ist eine großzügige Gutshofanlage, heute internationale Jugendbegegnungsstätte und seit zehn Jahren Heimat des zweiwöchigen Kammermusikfestivals Krzyżowa Music.
Der Blick zurück
Wer nach Krzyżowa reist, kommt um eine Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht herum. Die Geschichte von Kreisau, so der deutsche Name des Ortes, ist eng mit der Familie von Moltke verbunden. Mitte des 19. Jahrhunderts erwarb Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke den Besitz. Der Militärstratege war hoch angesehen, selbst Kaiser Wilhelm II. reiste zu dessen 90. Geburtstag nach Kreisau. Für diese Gelegenheit wurde eigens eine Bahnstation errichtet.
Ein mit malerischen Hortensienbüschen gesäumter Schotterweg führt auch heute noch etwas außerhalb des Dorfes zu der eingleisigen Zugverbindung, mit der es beispielsweise nach Breslau (Wrocław) geht. Dorothy von Hülsen, Projektmanagerin von Krzyżowa Music, erzählt gerne über die Historie des Gutshofes, die Teil ihrer Familiengeschichte ist. Die zierliche Dame, die auch bei brütender Sommerhitze die interessierten Gäste auf einen Spaziergang über die Anlage und somit auf eine Reise in die Vergangenheit mitnimmt, ist die Enkelin eines hochinteressanten Familienmitglieds: die gebürtige Südafrikanerin Dorothy Rose Innes. Ihr umfangreicher Briefverkehr mit ihren Eltern reflektiert einen wichtigen Abschnitt der deutschen Geschichte, gibt aber auch einen Einblick in das Leben am Gutshof. Ihr Sohn jedoch ist das bedeutendste Mitglied des Familienclans: Helmuth James von Moltke.
Der Jurist war einer der führenden Köpfe des später von der Gestapo so bezeichneten Kreisauer Kreises – einer Gruppe von Männern und Frauen, die an einem politischen und gesellschaftlichen Programm für den Neustart Deutschlands und Europas nach dem Krieg arbeiteten. Dieses umfasste alle Bereiche, bis hin zu Verurteilungen von Nazi-Verbrechern und Wiedergutmachungen für die Opfer. Neun Mitglieder, darunter Helmuth James von Moltke, wurden 1944 hingerichtet. Seine Gattin Freya, ebenfalls aktives Mitglied der Widerstandsgruppe, rettete den umfangreichen Briefwechsel zwischen dem Ehepaar durch die Kriegswirren. „Freya versteckte die Briefe auf dem Dachboden des Gutshauses und in Bienenstöcken. Da griff niemand hinein“, erzählt Dorothy von Hülsen. „Diese Briefe wurden von dem Pastor und Gefängnisseelsorger Harald Poelchau vom Gefangenen zu Freya geschmuggelt. Daher hat man einen Einblick, wie es Helmuth James im Gefängnis ergangen ist, aber auch, wie es seiner Frau gelang, das Gut zu führen und mit der Familie zu überleben. Obwohl der Gutsverwalter ein gestandener Nazi war, half er trotzdem der Gattin des Widerstandskämpfers.“
Zurück zur Gegenwart
Die dunklen Wolken der Vergangenheit haben sich in Krzyżowa verzogen. „Als Matthias und ich 1990 zum ersten Mal hierherkamen, war alles am Verfallen – und sehen Sie jetzt“, zeigt Dorothy von Hülsen auf die adrett restaurierten Gebäude: das schöne Haupthaus, die ehemaligen Stallungen, die jetzt als Konzertsaal, Speiseräume, Gästezimmer und Büros dienen. Mittelpunkt des Anwesens ist ein großer, begrünter Hof. Auf dem Rasen wird abends Fußball gespielt, bequeme Liegestühle laden zum Lesen oder Faulenzen ein, und Matten für eine Yogarunde werden am späten Nachmittag ausgerollt.
Matthias von Hülsen, Gatte von Dorothy, ist 81 Jahre alt, und hoch motiviert. Der Kinderarzt, Gründer des Musikfestivals in Mecklenburg-Vorpommern und maßgeblich beteiligt an der Geburt des Schleswig-Holstein Musikfestivals, wurde in Kreisau geboren. Die Verbindung zu dem Ort liegt also auf der Hand, und es versteht sich, dass hier der richtige Platz für ein außergewöhnliches Musikfest ist.
Es ist ein Festival für Musiker, eine Begegnungsstätte, ein Ort des Austausches und der Reflexion darüber, welche Aufgaben und welche Vorbildfunktion Musiker haben sollen oder könnten. Die Musiker aus ganz Europa, die sich hier anmelden, begeben sich unter der künstlerischen Leitung der Violinistin Viviane Hagner für zwei Wochen in eine Art Klausur der Kammermusik. Die Gruppen teilen sich in Mentoren, Seniors und Juniors. Erfahrene, international renommierte Künstler geben ihre Erfahrungen an junge Musikstudenten, die am Beginn ihrer Karrieren stehen, weiter. Hierarchien scheinen hier abgeschafft – es geht um Gemeinschaftsarbeit. Einige kommen seit Jahren her, um in der entspannten Atmosphäre zu arbeiten, aber auch, um Spaß zu haben. Kammermusik ist nichts für Einzelkämpfer, nur das Gemeinsame kann funktionieren.
Es tönt aus allen Ecken
Und es gibt auch Zuhörer. Die zahlenden Gäste, oft aktive Förderer des Festivals, sind am Gutshof untergebracht, studieren die Probenpläne vor dem gemeinschaftlichen Frühstücksraum. Dann wandert man von einer Probe zur anderen. Jede darf besucht werden, so lange oder kurz man möchte. Der sanfte Sommerwind trägt die Musik von Brahms, Lutosławski oder Mendelssohn-Bartholdy durch die weit geöffneten Fenster in den riesigen Hof. Mucksmäuschenstill lauschen die Gäste gebannt den intensiven Auseinandersetzungen der Musiker mit den einzelnen Werken und dem Streben nach Perfektion.
Frühstück, Lunch und Abendessen finden auf dem Anwesen gemeinschaftlich mit Musikern und Gästen statt – perfekte Voraussetzungen für einen Austausch. Für viele Gäste wie auch Musiker ist das Festival ein Fixpunkt in ihrem Kalender. Neben der Musik steht auch die Diskussion im Fokus. Kreisau hat sich nicht nur wegen der von Moltkes einen Platz in den Geschichtsbüchern verdient, sondern auch, weil sich 1989 hier zum ersten Mal der deutsche Kanzler Helmut Kohl und der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Polens, Tadeusz Mazowiecki, die Hand reichten und gemeinsam eine Versöhnungsmesse feierten. Wenige Monate später wurde eine Stiftung gegründet, die sich bis heute die europäische Verständigung zum Ziel setzt. Dazu gehören auch Symposien im Rahmen des Musikfestivals. Eines der Themen im zehnjährigen Jubiläumsjahr: die Auswirkungen totalitärer Systeme auf Musikerleben. Fazit des interessanten Abends: Jeder, ob Musiker oder nicht, ob er im freien Europa oder in einer Diktatur lebt, hat eine Verantwortung in der Gesellschaft und sollte seinem eigenen moralischen Wertekompass folgen.
Ort der Versöhnung
„Vielleicht hat das, was hier in Krzyżowa passiert, nur die Bedeutung eines Flügelschlags eines Schmetterlings, vielleicht aber löst dieser Flügelschlag einen Taifun aus“, meint Matthias von Hülsen am Eröffnungsabend des Festivals in der eindrucksvollen Friedenskirche in Świdnica (Schweidnitz). Unter großer Anteilnahme dürfen die ersten Kammermusikergruppen öffentlich die sorgsam erarbeiteten Musikstücke darbieten. Der Jubel ist groß, die Idee, auch Aufführungsorte außerhalb von Krzyżowa in das Festival einzubinden, geht voll auf. Wer einmal in die Welt von Krzyżowa eingetaucht ist, möchte mehr von der Geschichte Schlesiens erfahren und die Karrieren der so engagierten Musiker weiterverfolgen. Dem steht nichts im Wege, eine Reise zum Fuße des sanften Eulengebirges (Góry Sowie) zahlt sich definitiv aus.
Krzyżowa Music (Niederschlesien, Polen)
Das nächste Festival findet voraussichtlich wieder von Ende August bis ungefähr 8. September 2025 statt
Zum Thema
KRZYŻOWA MUSIC
www.krzyzowa-music.eu
STIFTUNG KRZYŻOWA
www.krzyzowa.org.pl