Staatsoper Stuttgart
Ein großer Wurf
Achim Freyers Inszenierung von Webers «Freischütz» aus dem Jahr 1980 ist erstmals seit sechs Jahren wieder zu sehen – und ein zeitloser Klassiker, der eine Reise wert ist
Stephan Burianek • 25. September 2024
Es kauzt und kuckuckt wieder im Garderobenfoyer des Stuttgarter Opernhauses. Schon vor der Vorstellung versetzen Waldtiere über unsichtbare Lautsprecher das Publikum in die vermeintlich „richtige“ Stimmung für Webers «Freischütz», die deutsche Nationaloper schlechthin. Und das seit 44 Jahren. Vier Monate bevor Hans Neuenfels in Frankfurt mit seiner legendären «Aida»-Inszenierung das lostrat, was man heute „Regietheater“ nennt, hatte in der Hauptstadt Baden-Württembergs die Arbeit eines weiteren zukunftsträchtigen „Opern-Auteurs“ für große Aufmerksamkeit gesorgt: Der aus der DDR geflüchtete Bühnen- und Kostümbildner Achim Freyer legte mit dem «Freischütz» von Carl Maria von Weber seine zweite Opernregie vor (nach Glucks «Iphigenie auf Tauris» in München). Im Unterschied zur Neuenfels-«Aida» wird der Freyer-«Freischütz» – nach sechsjähriger Pause – bis heute gezeigt (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Sophia Binder).
Anno dazumal
Um den Effekt, den Freyers Inszenierung damals hatte, einigermaßen seriös einschätzen zu können, lohnt sich ein Studium der damaligen Rezensionen, die zu jener Zeit noch überreich und ausführlich zwischen Hamburg und Wien in der Presse erschienen – und die Freyers Regie mehrheitlich lobten oder gar bejubelten: Klaus Geitel verglich in der Tageszeitung Die Welt das Zusammenspiel des Regisseurs mit dem Premieren-Dirigenten Dennis Russell Davies hinsichtlich seiner „Geschlossenheit, Brisanz und herausfordernden Unbedingtheit“ sogar mit dem Bayreuther „Jahrhundert“-«Ring». Das Publikum war hin- und hergerissen: „Die Aufführung wurde mit vollen Backen niedergebuht, sie wurde mit vollen Backen umjubelt“, berichtete Geitel.
Freyers Arbeit hatte die Vorgänger-Inszenierung von Walter Felsenstein abgelöst. Die Messlatte des großen Regiemeisters zu überspringen, wäre für den Regieneuling wohl schwierig gewesen, stattdessen schuf sich Freyer eine eigene Kategorie: „Felsenstein spielte Webers ‚Freischütz‘ als ein genau psychologisiertes, genau lokalisiertes Stück Zeitgeschichte vor gesellschaftskritischem Hintergrund. Freyer dagegen hebt ab auf eine surrealistisch verfremdete, bizarre Phantasmagorie deutscher Sitten- und Seelenkunde“, schrieb Christoph Müller in der Südwestpresse.
Aus heutiger Sicht war das freilich erst der Anfang, denn Freyer steigerte den Surrealitätsgrad nach dem «Freischütz» noch beträchtlich und fand seinen Kulminationspunkt wohl in der Inszenierung von Wagners «Ring des Nibelungen» (2010) in Los Angeles. Der Kontrast zu dem damals weitgehend vorherrschenden – und in der Oper nicht unbedingt immer hilfreichen – Realismus muss dennoch groß gewesen sein: „so rot sind Wadlstrümpfe, so grün Jägeranzüge noch nie gewesen“, meinte Beate Kayser, die Freyer in der TZ „eine Art Sauerteig im deutschen (Opern-)Theater“ nannte – „Fast zu viel auf einmal.“ Rainer Wagner konstatierte in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung: „Dabei ist Freyer, was Farben und Formen angeht, nicht von den Romantikern beeinflußt, sondern von der direkten Naivität, die sich etwa auf Votivtafeln widerspiegelt. Und wenn dann im Terzett zwischen Agathe, Ännchen und Max die Akteure starr aufeinander deuten, dann ironisieren sie zugleich Operngebärden und Beziehungen, aber auch die Gestik der Votivtafelfiguren.“ Ein gewisser W. Ludewig war sichtlich überfordert: Freyers Phantasie habe „einige allzu kühne Purzelbäume geschlagen“, beklagte er im Südkurier.
Gut gereifte Purzelbäume
Es sind vielleicht genau diese „Purzelbäume“, die Freyers Inszenierung bis heute sehenswert machen. Wiewohl immer wieder – und wohl zurecht – an Freyers Personenführung gemäkelt wurde, so tut sich in dieser Inszenierung auf der Bühne permanent etwas, das zum Stück passt und nie gegen die Musik läuft. Ein weiterer Grund für die Repertoiretauglichkeit und vor allem Beliebtheit dieser Arbeit ist wohl auch: Freyer folgt gewissenhaft dem Text, mehr noch, er inszeniert sogar die von Weber nicht komponierte (und folglich gestrichene) Anfangsszene des vielleicht zu Unrecht geschmähten Librettos von Johann Friedrich Kind, in der Agathe gemeinsam mit Ännchen den Eremiten besucht – erst dadurch wird die Handlung dramaturgisch eine runde Sache.
Dafür entwarf Freyer ein starkes Anfangsbild: Der Eremit, dessen Kleidung, (Bart-)Haare und Haut gleichsam als gottväterlicher Lookalike im hellsten Weiß strahlen, kniet vor einem Kreuz, das von einem Band durchzogen ist, das ihn mit dem Auge Gottes am Plafond des reduzierten Bühnenraums verbindet. Gekrönt wird dieses Bild von einem Regenbogen. Mit Beginn des Einlasses hatte bei der Wiederaufnahme Michael Nagl auf Knien seinen Einsatz abzuwarten. Dass der Wiener eine Luxusbesetzung sein würde, erwies sich freilich erst am Schluss, wo er bei Weber gleichsam als Art Deus-ex-machina fungiert.
Am Pult der aktuellen Aufführungsserie steht der Generalmusikdirektor Cornelius Meister, er sorgte mit dem großartig und präzise klingenden Staatsorchester Stuttgart in der besuchten sonntägigen Nachmittagsvorstellung mit einem zarten Beginn und weichen Klangbildern für eine solide, wenngleich etwas zu eintönige Wiedergabe.
Den unglücklichen Schützen Max sang Kai Kluge mit kerniger Stimme makellos liedhaft, den hinterhältigen Kaspar interpretierte David Steffens erstklassig sonor und mit großer stimmlicher Präsenz. Mandy Fredrich wiederum punktete als Agathe mit ihrer schönen Stimmführung und einem schwermütigen Timbre, die insbesondere in der Kavatine im dritten Akt einen eindringlichen Moment schufen. Ansonsten wirkt ihre Stimme bereits zu reif ihr für diese Partie, ihr fehlt die gewünschte Leichtigkeit und Frische, und auch die Höhe. An ihrer Seite überzeugte Natasha Te Rupe Wilson als Ännchen mehr spielerisch als gesanglich. Insbesondere die Männer des erstklassigen Staatsopernchors (Einstudierung: Bernhard Moncado) ernteten als Jagdgesellschaft mit Freyer’schen Grimassen Szenenapplaus.
Die Szene in der Wolfsschlucht ist bei Freyer nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch der Höhepunkt des Stücks und „wird zum psychoanalytisch getönten Symbol-Panoptikum“, wie Gerhard R. Koch seinerzeit treffend in der FAZ schrieb. Vielleicht kann bis heute keine Geisterbahn mit den Ausgeburten der Freyer’schen Hölle mithalten: Eine Riesenkreuzspinne schwebt herab, ein Riesenwildschwein drängt aggressiv zur Tür herein, die Wände wackeln bedrohlich. Lediglich die „feurigen Räder“, die mehreren Rezensenten eine Erwähnung wert waren, und die offenbar mittels LED-Leuchten modernisiert wurden, entfachen mittlerweile eine eher gegenläufige Wirkung.
Aus heutiger Sicht bemerkenswert: Es werden noch Freikugeln gegossen, und der Pakt mit dem Teufel wird von der Regie nicht auf irgendeiner Metaebene entromantisiert. Angesichts der ein Kleinkind aufspießenden Breughel-Figur wäre wohl nach gegenwärtigen Maßstäben mit einer Altersbeschränkung oder zumindest mit einer Trigger-Warnung zu rechnen – zumal im Publikum neben Oktoberfest-Kostümen (mit „Tracht“ gibt es ein Glas Sekt gratis) auch zahlreiche Kinder im Publikum saßen. Andererseits: Muss man sie wirklich davor bewahren? „Freyer führt vor, wie verlogen eine Welt ist, die das Dunkle negiert“, interpretierte Beate Kayser in der TZ den pädagogischen Wert der Freyer-Inszenierung seinerzeit (schade nur, dass bis heute allzu viele Menschen das Böse als solches nicht zu erkennen vermögen).
Und dann erscheint Samiel, der bereits zuvor dann und wann hereingelugt hat. Mit ihm möchte man in keinem Lift fahren, so furchterregend sieht er aus. Kristian Metzner, ein Mitglied des Staatsopernchores, war mit der schwarzen Maske und den leuchtenden Augen in dieser Rolle freilich nicht zu erkennen.
In der Schlussszene gab der gewohnt ausgesungene Franz Hawlata als Erbförster Kuno nochmal sein Bestes. Mit dem bereits erwähnten Michael Nagl als Eremit sowie mit dem herrlich stimmkräftigen Johannes Kammler als zappeliger Fürst Ottokar punktete das Haus indes mit zwei Luxusbesetzungen, wie sie sonst nur bei ausgewählten Festspielen oder, wie in diesem Fall, in einem erstklassigen Opernensemble zu finden sind.
Was am Ende auch klar war: Die Freyer-Inszenierung ist im Alter von knapp 44 Jahren immer noch ein Gewinn. Und sie beweist einmal mehr, dass selbst kompetente Kritiker gelegentlich danebenliegen: „Der erwartete ganz große Wurf ist Freyer nicht gelungen“, beendete Gerhard R. Koch damals seine Rezension in der FAZ. Tja.
«Der Freischütz» – Carl Maria von Weber
Staatsoper Stuttgart · Opernhaus
Kritik der Vorstellung am 22. September
Termine: 12./15./29. Oktober; 6./8. November