Staatstheater Wiesbaden
Tutto nel mondo è burla
Eine neue Ära beginnt mit einem Weltuntergang: Pinar Karabulut inszeniert Ligetis «Le Grand Macabre», die Intendantinnen feiern das Leben und der neue GMD Leo McFall sorgt für Spielfreude
Daniela Klotz • 30. September 2024
Ja, der Titel dieser Rezension ist Arrigo Boitos Libretto für Verdis «Falstaff» entlehnt. Es hätte auch ein Wagner-Zitat sein können: „Man muss mit dem Erhabensten scherzen können.“ Beides passt perfekt zu György Ligetis „Anti-Anti-Oper“ «Le Grand Macabre», einem Spiel mit dem Spiel in einer auf dem Kopf stehenden Welt. Der Toten-Zar kommt halt direkt aus einem Stück Michel de Ghelderodes, der ebenso von Bosch, Breughel und Ensor inspiriert wie am mittelalterlichen Puppenspiel interessiert war. Faust lässt herzlich grüßen.
Jo Schramm (Bühne und Licht) macht den Kern dieses neu-alten Fabelstücks schon verständlich, ehe der erste Ton erklungen ist: Die Bühne ist eine Weltscheibe, ein Marktplatz, eine Zirkusmanege. Sie steht direkt am Zuschauerraum. Das Orchester sitzt gut beleuchtet und erhöht hinter dieser Scheibe. Als einziges Requisit hängt über allem ein „spektakulärer Trichter“, wie Dramaturgin Katja Leclerc es formuliert. Das transparente, bunt schillernde Riesending wird im Lauf der Handlung Geburtskanal, Teleskop und Weg in die Ewigkeit.
Aus ihm kommt der Herr der Toten – der Tod – auf die Erde, Nekrotzar, der große Makabre. Ein Schauerlicher will er sein und ist doch ein Grotesker, wenngleich ein verteufelt gutaussehender. Körperlich wie stimmlich in Hochform gibt der amerikanische Bassbariton Seth Carico einen Nekrotzar irgendwo zwischen Jack Nicholsons Joker und Jim Carreys Riddler. Willkommen im Opern-Comic. Dumm nur, dass der Sensenmann sich ausgerechnet Breughelland ausgesucht hat, um die Welt mittels eines Kometen zu vernichten. Denn in diesem feucht-fröhlichen Ländchen glaubt man einfach nicht an sowas wie ein Ende der Heiterkeit.
Seine Bewohner werden am Ende den Weltuntergang auch nicht zulassen. Im Gegenteil muss der Tod (Teufel) sich wieder einmal hereinlegen lassen. In dem Fall von Piet, der ihn schlicht abfüllt. Denn das, was da so gut schmeckte, war kein Menschenblut, sondern Rotwein. Aber der Reihe nach.
Die ersten Menschen, auf die Nekrotzar trifft, sind Piet vom Fass, seines Zeichens Weinverkoster des Landes, und Amando und Amanda, ein liebestolles Paar, das nicht voneinander lassen kann. Cornel Frey scheut sich darstellerisch nicht vor dem Grotesken und ist zudem ein stimmlich hochpotenter heiliger Trinker wie er im Buche steht. An den beiden Liebenden, die vor lauter Lust den drohenden Weltuntergang verpassen, exemplifiziert Pinar Karabulut, hochgelobte Regisseurin und designierte Co-Intendantin des Zürcher Schauspielhauses, ihre Idee von der Auflösung der Geschlechterrollen: Wie eine Geburt der Venus hatte Ligeti sich das Auftreten dieser Liebe vorgestellt. In den von Comic-Strips inspirierten, das Geschehen überspitzenden Kostümen von Teresa Vergho wird die Suche nach dem adäquaten Anderen hier wieder zur Vereinigung mit dem glücklich wiedergefundenen Teil des Kugelmenschen. Inna Fedorii und Fleuranne Brockway ergänzen einander lasziv-naiv in betörendem Zwiegesang und poetischer Darstellung.
Auch im Hause des Hofastrologen, das Nekrotzar mit Piets Zutun als nächstes besucht bzw. heimsucht, herrschen ebenfalls menschliche, allzu menschliche Zustände. Alle Menschen hätten die gleichen Triebe, hatte Ligeti gesagt. Durst, Hunger, Sex, Macht. In seiner einzigen Oper kommen sie alle vor, nur weniger geschminkt. Ariana Lucas als mit Minnie-Mouse-Ohren ausgestattete Mescalina will von allem reichlich. Mit großer Stimme und der Peitsche treibt sie ihren Gatten an und erfleht von Venus einen richtigen Kerl. So inständig, dass die Göttin in Gestalt von Josefine Mindus auf die Erde herabsteigt, sich dies Elend selbst anzusehen. Die Entourage der Galaktischen: eine Art Herkules-Travestie.
Der hünenhafte, in einem lilafarbenen Wallekleid mit Schleife plus weißer Zeus-Perücke steckende Astradamor Sion Goronwy zieht dennoch seine himmlische Ruhe dem regen Eheleben vor. Er stirbt darum sogar den Scheintot. Mescalina erweckt ihn mittels einer riesenhaften Spinne. Irrungen, Wirrungen wie sie halt passieren, wenn Sternenliebe und Haluzinogen aufeinandertreffen. Aber auch Mescalina steht der Tod gut: Nekrotzar beißt ihr wie ein Vampir in den Hals und ordert, „das Ding“ wegzuschaffen, das aber munter weiterlebt und ebenso wie das Publikum solch herbe Sätze nicht weiter ernst nimmt. Warum auch, wenn alles anders ist als es sein soll?
Ähnlich geht es bei Hofe zu. Der Weiße Minister Sascha Zarrabi und der Schwarze Minister Hovhannes Karapetyan haben einen ordentlichen Schuss Glööckler im Bühnenblut und noch mehr Spiel- und Sangesfreude. Kein Wunder, dass Fürst Go-Go Galina Benevich von ihren ewigen Demissionen genervt ist. Fürst Go-Go Galina? Ja. Im ebenso überdrehten wie poetischen Kostüm steckt eine Frau. Ein zierliches Persönchen mit großer Stimme und intensiver Gestik. Ihr Spiel dürfte für viele der Moment gewesen sein, in dem endgültig ein ziemlicher Groschen fiel: Es gibt außer einem Spielball, mit dem sich Ruffiak Wooseok Shim, Schobiak James Young und Schabernack Fabian-Jakob Balkhausen, drei Faust’sche Gewaltige der anderen Art, eine Weile tummeln, so gut wie keine Requisiten. Alles andere ist tänzerische Bewegung, Gestik und Mimik. Auch, wenn das Volk (der Chor des Hessischen Staatstheaters unter Albert Horne) die Herrscherkaste bedrängt. Und, wenn Josefine Mindus, „himmlisch“ auch in der Rolle von Gepopo, Chef(in) der Geheimpolizei, sich, ebenfalls in Angst vor dem Weltuntergang, musikalisch langsam auflöst.
Wo Musik sei, sei Tanz, hatte Pinar Karabulut laut Programmheft als Parole ihrer Inszenierung ausgegeben. Es habe, betonte Dramaturgin Katja Leclerc, keine choreographische Unterstützung gegeben. So geht also Regie. Gelungen ist allen Beteiligten ein herrliches Spektakel, das Ligetis nachgerade genialem Spiel mit Zitaten von Barock bis Romantik absolut gerecht wird und aus der Anti-Anti-Oper das macht, was die doppelte Verneinung in dem Fall nun mal ergibt: Große Oper.
Der neue Wiesbadener Generalmusikdirektor, Leo McFall, führt das Staatsorchester mit der gleichen Leichtigkeit des Seins durch dieses irrwitzige „Im Stile von“ mit Hupen, Klingeln und mehr. Die Spielfreude lässt auf bestes Einvernehmen schließen und steckt an – nicht nur während des Stücks, auch davor und danach. Denn die beiden neuen Intendantinnen Dorothea Hartmann und Beate Heine haben sich ein reizendes Rahmenprogramm einfallen lassen: Vorab wurde an einer nahezu durch die ganzen Kolonnaden reichenden Tafel der Weltuntergang mit Kometentorte und Himmelstörtchen für alle gefeiert. Die passende „Fanfare“: Die berühmten zwölf Hupen, die Ligeti nur einsetzte, weil drei Musiker nun mal vier Extremitäten haben, die sie zum Spielen einsetzen können. Hinterher fand eine offene Premierenfeier im Foyer statt. Wie’s weitergeht, nachdem die Wiesbadener Theaterwelt nicht untergegangen ist? Man darf gespannt sein.
«Le Grand Macabre» – György Ligeti
Staatstheater Wiesbaden · Großes Haus
Kritik der Premiere am 28. September
Termine: 5./13./20./25. Oktober