Staatstheater Nürnberg

Im Koma durch die Fantasie

Ballettchef Goyo Montero stellt mit Mozarts «Zauberflöte» seine erste Operninszenierung vor, die bei ihm ein Trip durch die Seele wird und mit Sicherheit niemanden kalt lässt

Stephan Schwarz-Peters • 11. Oktober 2024

Tamino und Pamina (im Bild die Erstbesetzung Martin Platz bzw. Chloë Morgan) werden bei Goyo Montero im Laufe der Handlung zu einem einzigen Ich © Jesús Vallinas

Eine neue «Zauberflöte» für Nürnberg – und damit Futter fürs Repertoire sowie Lockstoff für junge Zuschauerschichten, denen man Mozarts buntes, quirliges, magisch-märchenhaftes Volks- und Welttheater gern als Einstiegsdroge serviert. Als zugänglich, verführend und familientauglich möchte auch Goyo Montero die erste Operninszenierung seines Lebens verstanden wissen. Der Nürnberger Ballettchef hat sich intensiv in die «Zauberflöten»-Partitur hineinbegeben, und die Nähe zum Stoff, zur Musik und auch das genaue Lesen machen sich in jedem Moment seiner szenischen Umsetzung bemerkbar. Ein heiteres Vorweihnachtsmärchen ist dabei aber nicht herausgekommen, vielmehr ein düsterer Fantasy-Trip durchs Unterbewusstsein – eine Reise, die der hier ausdrücklich nicht als Prinz, sondern als Held apostrophierte Tamino nach einem Fall ins Koma durch die tieferliegenden Schichten seiner Seele unternimmt. Die Liebesgeschichte, die er mit Pamina durchlebt und durchleidet, ist nicht die zweier Menschen, sondern zweier Teile eines Menschen, von denen der eine nur zu Glück und Ausgleich gelangen kann, wenn er den anderen gefunden hat – wenn also aus dem Wir, oder besser gesagt: zwei Ichs ein Ich wird. So weit, so poetisch.

Schwarz und fast wüst, wie ein mystischer Seelenabgrund, liegt die nur mit beweglichen Treppenelementen möblierte Bühne von Leticia Gañán und Curt Allen Wilmer vor den Augen der Zuschauer. In eine strenge Farbsymmetrie eingeteilt – in grellem Orange die einen, in geheimnisvollem Blau die anderen – agieren darauf die Vertreter des Sonnenkreises und der Nacht als widerstreitende Prinzipien; der Chor ist in neutrales Weiß gehüllt: wie Tamino und Pamina, die in ihren Komapatienten-Krankenhausnachthemden jedoch stilistisch aus dem Rahmen der bizarren Kostüme von Salvador Mateu Andújar herausfallen. Durchsichtige Elemente aus aufblasbarem Plastik bestimmen die Outfits der Drei Damen und von Monostatos. Wie Beetlejuice auf Drogen (überhaupt eine wunderbare Referenzfigur für Monteros Visionen) bewegt sich, unter Verrenkungen, mit sternflammender Haarpracht und gezweigartigen Krallen, die Königin der Nacht wie ein merkwürdiges Naturwesen durch die Szenerie, um sich in der Rachearie gänzlich in einen giftigen Seeigel oder Skorpionfisch zu verwandeln. Für Erwachsene bleibt Papageno, der als einziger mit Papagena das Rot ins symbolische Farbenspiel mit einbringt, der humorige Sympathieträger; Kindern hingegen könnte er, der hier übrigens keine Vögel, sondern „Seelen“ fängt, mit seiner Gerippe-Applikation ein wenig unheimlich vorkommen.

Man ahnt bereits, dass es hier viel zu sehen gibt – was auch an den stimmig eingebundenen Videos von Àlvaro Luna liegt. Doch wäre die Inszenierung keine Inszenierung, wenn sich Goyo Montero nur auf die Schauwerte verlassen würde. Sie sind auch augenscheinlich nicht der Impuls, aus dem heraus er seine Geschichte entwickelt, sondern – man spürt den Ballettmann in jeder Sekunde – aus dem tänzerischen Gestus, der hier alles überzieht, alles zusammenfügt und dem Konzept selbst dann noch Halt gibt, wenn ihm Mozart bzw. Schikaneder durch ihren Text oder ihre Dramaturgie in die Parade fahren. Noch bis in die skelettierten Dialoge hinein hat Montero das Geschehen durchchoreografiert und des Ensemble damit zu erstaunlicher Bewegungsfreude angeregt. Bewusst statuarisch wird es nur, wenn sich der Text in Sinnsprüchen wie „Mann und Weib, Weib und Mann, reichen an die Gottheit an“ oder „Zwei Herzen, die vor liebe brennen, kann Menschen Ohnmacht niemals trennen“ ergehen und der Chor wie zur Untermauerung des Gesagten in den Gesang einfällt. Komischerweise – und das spricht für Monteros sehr persönliche und sehr ehrliche Herangehensweise an das Stück – empfindet man das als ebenso wenig frevelhaft wie die leichten Retuschen am Text oder die Umstellung der letzten Papageno-Szene, die hier vor und nicht nach Taminos und Paminas Feuer- und Wasserprobe gespielt wird. 

Die Drei Knaben vom Tölzer Knabenchor werden von der Königin der Nacht wie Marionetten geführt © Jesús Vallinas

Dass ausgerechnet dieses in dunkler Berg- und Felsengegend angesiedelte Initiationsabenteuer so unspektakulär und einfallslos abgehandelt wird, ist schade. Denn gerade hier hätte man sich den großen Höhepunkt der gesamten Aufführung erhofft und nicht nur ein paar lahme Beleuchtungseffekte im ohnehin schon weidlich durchexerzierten Orange und Blau. Auch sonst ist die Inszenierung nicht frei von Unstimmigkeiten (Warum etwa werden die über eine höhere Form von Weisheit gebietenden Drei Knaben von den Damen der Königin der Nacht wie Marionetten geführt? Ist sie in Wirklichkeit das beschützende Prinzip hinter dem Allen?). Doch wer hätte jemals eine «Zauberflöten»-Aufführung verlassen, ohne alle Fragen, die dieses Stück aufwirft, restlos beantwortet bekommen zu haben? So ist es nun mal mit uns Nicht-Eingeweihten: Wir sitzen fasziniert davor und grübeln und raten.

Im Fall der besuchten Aufführung – der zweiten der Premierenserie mit Alternativbesetzung – bleiben auch musikalisch einige Fragen offen. Die gute Nachricht: Stimmlich überzeugend sind sowohl das „hohe“ als auch das „niedrige“ Paar. Sergei Nikolaev bringt einen lyrischen Tenor, der sich allerdings schon etwas aus den Mozart-Regionen hinausbewegt und daher manchmal den zur völligen Verschmachtung führenden Schmelz vermissen lässt. Die „Bildnis-Arie“ allerdings gelingt ihm hier wundervoll. Eine erstaunliche Pamina ist Veronika Loy, die von der ersten Sekunde an ihren Charakter als den stärksten des ganzen Stückes begreift und diese Ansicht mit Konsequenz verfolgt. Unglaublich fokussiert, geradlinig und von Intonation bis Diktion in allem perfekt, scheint sie sich in jedem Ton und in jedem Wort direkt ans Publikum zu wenden. Dass ihr Timbre nicht sehr variantenreich ist, verstärkt den Eindruck von Unerschütterlichkeit, aber gerade dadurch brennt sie sich aus dem Unterbewusstsein der Bühne ins Bewusstsein der Zuschauer.

Seeigel oder Skorpionfisch? Die Königin der Nacht (Erstbesetzung: Sophia Theodorides) sieht jedenfalls furchterregend aus © Jesús Vallinas

Demian Matushevskyi ist ein (wie gesagt leicht unheimlicher) Spaß- und Possenvogel, der ebenfalls über einen sehr runden, weichen und angenehmen Stimmklang verfügt, diesen aber auch charakterrollengerecht einzusetzen weiß. Mit der fröhlich hellen Clarissa Maria Undritz hat er eine begabte junge Sängerin aus dem Nürnberger Opernstudio als Papagena an seiner Seite, mit der sich das Schlussduett der Vogelleute wundervoll pointiert, wie aus dem Mozart-Lehrbuch, daher plappern lässt. Herrlich! Sieht man von dem stimmlich alerten und szenisch ziemlich neurotischen Florian Wugk als Monostatos (ebenfalls eine Studio-Mitglied) und den nicht namentlich genannten Tölzer Knaben-Knaben ab, sieht es auf der restlichen vokalen Seite leider nicht ganz so gut aus. Taras Konoshchenko bleibt als Sarastro blass, wirkt ausgelaugt, mit wenig Farbe in der Stimme, und sein sonst so profunder Bass gerät bei den tiefen Tönen fast völlig unter den Hörradar. Da er in einer Doppelrolle als Sprecher noch gut gestartet ist, möchte man annehmen, er sei an diesem Abend indisponiert gewesen. Falls ja: gute Besserung. Recht schrill und in der Höhe eng, macht Andromahi Raptis als Königin der Nacht überhaupt keine Freude, zumal man die Sängerin in anderen Rollen in Nürnberg schon weit besser erlebt hat. Schade auch um das wenig ausbalancierte Damen-Terzett (Caroline Ottocan, Linsey Coppens, Almerija Delic), das vielleicht dann doch zu sehr mit der ausgetüftelten Bewegungs-Choreografie beschäftigt war, um stimmlich homogen zusammenzugehen.

Ein bisschen wackelt es auch im Orchester, wenngleich die musikalische Umsetzung unter Anleitung von Roland Böer insgesamt sehr glutvoll, spannungsgeladen und auf wahrhafte Darstellung der vor unterschiedlichen Emotionen nur so überquellenden Partitur bedacht ist. Wahrscheinlich muss sich vieles in dieser Produktion noch einspielen, manches nachgeschliffen werden. Als repertoiretaugliche Umsetzung eines Klassikers, die Geist und Sinne gleichermaßen anspricht, Erwachsene, Jugendliche und (mit Einschränkungen) Kinder, hätte sie jedenfalls eine lange Lebensdauer im Programm des Nürnberger Staatstheaters verdient. Warten wir mal ab.


«Die Zauberflöte» – Wolfgang Amadé Mozart
Staatstheater Nürnberg · Opernhaus

Kritik der Aufführung am 9. Oktober
Termine: 12./14./19./29./31. Oktober; 10./17./24./27. November; 6. Dezember 2024; 9./15./23. Februar 2025


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OPE[R]NTHEK / STAATSTHEATER NÜRNBERG
Eine Feier der Sinnlichkeit.
– von: Goyo Montero, in: Die Zauberflöte, Programmheft, Staatstheater Nürnberg