Kalchschmids Albenpanorama

10/2024

Eine spannende Gluck-Einspielung, eine wiederentdeckte Komponistin mit Liedern auf Texten ihres Vaters Victor Hugo und neu instrumentalisierte Barockmusik mit prominentem Counter

Klaus Kalchschmid • 17. Oktober 2024

«Iphigénie en Aulide» war 1774 die vierte von Christoph Willibald Glucks Reformopern nach «Orfeo ed Euridice» (1762), «Alceste» (1767) und «Paride ed Elena» (1770), aber die erste, die er für Frankreich komponierte als ausdrückliche Reform der Tragédie lyrique – mit einer Verwischung von Rezitativ (oft accompagnato) und Arie, melodischer Einfachheit und einer textverständliche Vertonung. Dazu gab er dem Chor eine bedeutsame Rolle durch das ganze Drama hinweg. 

Zur Handlung: Iphigenie soll der Göttin Diana geopfert werden, damit ihr Vater Agamemnon günstige Winde für die Überfahrt von Aulis nach Troja erlangt. Derweilen wird die Hochzeit Iphigenies mit Achill vorbereitet, Iphigenie versichert ihm seine Liebe, fügt sich aber dem Opfer. Sowohl ihre Mutter Klytaimnestra wie Achill verurteilen Agamemnons Grausamkeit. Am Ende hat der Oberpriester Calchas eine Vision, in der Diana auf ihr Opfer verzichtet. Einer glanzvollen Hochzeit von Iphigenie und Achill steht nichts mehr im Weg.

Die Einspielung unter Julien Chauvin besitzt Spannung von der ersten bis zur letzten Note – nicht zuletzt dank eines exzellenten Orchesters (Le Concert de la Loge) und als weiteres Kollektiv die hervorragenden Chantres du centre de musique baroque de Versailles. Nur vier Protagonisten gibt es, ihnen vertraut Gluck ein großes Ausdrucksspektrum an, das sich oft innerhalb einer Arie für Momente verändert. Tenor Cyrille Dubois ist als Achill ein Feuerkopf, der nicht nur Iphigenie dank einer Intrige von seiner Liebe überzeugen muss, sondern sie auch mit allen Mitteln vor dem Opfertod retten will, wie auch ihre Mutter Klytaimnestra (ein nicht minder flammender Mezzo: Stéphanie d’Oustrac). Die sich in ihr Schicksal fügenden Gefühle von Iphigenie fasst Gluck in feine, nie allzu expressive Töne, was Judith van Wandroijs subtilem Singen entgegenkommt, während Agamemnon beim Bassbariton Tassis Christoyannis eine große Autorität aussstrahlt. (Alpha)


Adèle Hugo, der Tochter Victor Hugos, wurde 1975 von François Truffaut mit Isabelle Adjani in der Hauptrolle eine beeindruckende Filmbiographie („Die Geschichte der Adèle H.“) gewidmet. Doch dass Adèle nicht nur bis zur erstmaligen Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung, in der sie die zweite Hälfte ihres 85-jährigen Lebens verbringen sollte, eine virtuose Pianistin, sondern auch Komponistin war, zeigt nun erstmals ein Album, das die Vertonung von Texten ihres Vaters Victor enthält, farbig pastos instrumentiert von Richard Dubugnon (und gespielt vom Orchestre Victor Hugo unter Jean-François Verdier). Darunter sind auch eingängige Lieder aus dem Roman „Les Misérables“ und „Lieder ohne Worte“ für Klavier und Klarinette bzw. Cello. Die Sopranistinnen Sandrine Piau, Axelle Fanyo und Anaïs Constans sowie die Mezzos Karine Deshayes und Isabelle Druet widmen sich mit viel Einfühlungsvermögen dem Dutzend teils etwas gleichförmiger, dann wieder sehr origineller „Mélodies“, die mal an Offenbach, mal an Gounod erinnern, bis hin zum letzten Track, einem durchaus tief schürfenden „Gebet für die Toten“. Und auch eine einsame Männerstimme gibt es, den kernigen Bariton Laurent Naouri, der mit Chor eine abgründige „Hymne des transportés“ zum Besten gibt. (Alpha)


Jakub Józef Orlinski hat schon eine Reihe Barock-Alben aufgenommen, aber noch keines sprengt den musikalischen Rahmen so wie „#LetsBaRock“. Bekannt sind die meisten Arien, aber das moderne Gewand, in dem Marcin Ułanowski (Schlagzeug) und Wojciech Gumiński (Kontrabass) sowie Aleksander Dębicz an den Tasteninstrumenten – letzterer ist zugleich der Bearbeiter– sie präsentieren, verfremden sie manchmal fast bis zur Unkenntlichkeit. Allerdings beginnen alle diese „Cover-Versionen“ mit dem Original, bevor sie rhythmisch und harmonisch in Jazz- oder Pop-Gefilde abheben und Orlinski scheinbar frei improvisiert. Das ist jeweils ganz unterschiedlich, ob bei „Alla gente a Dio diletta“, das fast konventionell das Album eröffnet, Purcells „Strike the viol“ und „Music for a while“ oder Händels „Pena tiranna“, das ganz schlicht original – mit Klavierbegleitung – beginnt, dann immer weiter abdriftet und sogar die Singstimme verfremdet klingen lässt. „Oblivion soave“ aus Monteverdis «Poppea» bleibt ein Wiegenlied, gewinnt aber „Eigenschaften eines tranceartigen, traumgleichen Clubtracks“. Wie der erste Track beginnt der letzte sphärisch – auf Polnisch! – und klingt fast wie ein veritabler Popsong und ein wenig nach dem Rap, den es – auf Englisch – auch gibt. „Moja i Twoja Nadzieja“ ist denn auch die neue Version eines Songs der berühmten polnischen Band „Hey“. Die barocken Coverversionen freilich enden mit der berühmtesten Arie des Albums, deren Livemitschnitt aus Aix-en-Provence mit Orlinski in Holzfällerhemd und kurzen Hosen seit 2008 auf Youtube elf Millionen Mal angeklickt wurde: Vivaldis „Vedrò con mio diletto“. Und da wird dann doch deutlich, dass das Original einen noch größeren Reiz besitzt als die schönste Cover-Version dieses veritablen Crossover-Albums. (Erato)