Landestheater Linz

Reisen in Zeitlupe

In der Blackbox des Musiktheaters hob Dirigentin Jinie Ka mit «Il viaggio» (Die Reise) zwei neue Kurzopern von Alois Bröder umjubelt aus der Taufe. Sie basieren auf Werken von Luigi Pirandello

Walter Weidringer • 20. Oktober 2024

In «Das Licht vom anderen Haus» stellt Tullio (Christoph Gerhardus) heimlich und letztlich erfolgreich der unglücklichen Ehefrau Margherita (Génesis Beatriz López Da Silva) nach © Petra Moser

„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer“, heißt es bei Heimito von Doderer: „Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“ Aber nein, eine umfassende Doderer-Vertonung wurde keineswegs uraufgeführt im Musiktheater Linz, das hätte wohl die Blackbox im Untergeschoß gesprengt. Niemand muss sich also vor einer Opernheptalogie, -ennealogie oder gar -dodekalogie fürchten, die auf der „Strudlhofstiege“ und/oder den „Dämonen“ basieren würde. Nicht einmal der vergleichsweise schmale Band, den der Roman „Ein Mord den jeder begeht“ beansprucht, aus dem die bekannte, eingangs zitierte Sentenz stammt, wurde hier zur Vorlage erkoren.

Aber Doderers Gedankengang scheint jedenfalls wie geschaffen für Tullio Buti, den Protagonisten in Luigi Pirandellos „Licht vom anderen Haus“ („Il lume dell’altra casa“, 1909). Und dieser Tullio Buti ist auch die Hauptfigur im gleichnamigen Operneinakter von Alois Bröder, geboren 1961 in Darmstadt. Zusammen mit einer weiteren Pirandello-Vertonung namens „Die Reise“ („Il viaggio“, 1910), beide Vorlagen entstammen Pirandellos umfangreicher Erzählungensammlung „Novelle per un anno“, bildete das „Licht vom anderen Haus“ nun einen zweiteiligen Uraufführungsabend auf der kleinen Bühne des großen Hauses am Linzer Volksgarten, der nach zweieinhalb Stunden inklusive Pause herzlich bejubelt wurde.

Luigi Pirandello also: der Literaturnobelpreisträger, der Autor von „Sechs Personen suchen einen Autor“, der Grenzgänger zwischen Erfindung und Wirklichkeit, Spiel und Realität. Beide Erzählungen, für die Bröder selbst die Libretti geschrieben hat, handeln seiner Überzeugung nach „von Verschüttungen des Gefühls, von tiefen Emotionen und deren Wandlungen und Entwicklungen. Welche privaten und gesellschaftlichen Funktionalisierungen, welche selbst auferlegten und welche von außen kommenden Zwänge und Erwartungen halten uns so gefesselt und gelähmt, dass wir uns von ihnen befreit wünschten, um tatsächlich leben zu können?“ 

Im «Licht vom anderen Haus» mietet der kleine Beamte Tullio Buti ein Zimmer, von dem aus er, wie er entdeckt, in eine gegenüberliegende Wohnung blicken und als Voyeur am Leben der dortigen Familie teilnehmen kann. Die Avancen der Tochter seiner Vermieterin bemerkt er kaum, ihn faszinieren die Mascis da drüben, vor allem Margherita, die Ehefrau und Mutter. Sie wird der Beobachtung durch Tullio gewahr – und verlässt die drei Buben und ihren gewalttätigen Ehemann, um mit Tullio fortzugehen. Doch nach einer Weile kehren sie wieder, die leidenschaftliche Idylle des neuen Paares ist merklich getrübt: Nun will Margherita ihre Kinder wenigstens von der neuerlich gemieteten Wohnung auf der anderen Straßenseite aus sehen … 

«Die Reise» tritt die sizilianische Witwe Adriana Braggi an, die seit dem Tod ihres Mannes mit den zwei Söhnen bei ihrem Schwager Cesare lebt. Sie hat schon länger Schmerzen, nun wird eine Krebserkrankung diagnostiziert. Zusammen mit Cesare verlässt sie zum ersten Mal ihr kleinbürgerliches Umfeld in der Provinz, reist mit ihm zuerst nach Palermo, dann Neapel und mit mehreren Stationen weiter bis Venedig. Sie lebt auf und erkennt ihre uneingestandene Liebe zu Cesare, doch auch die auswärtigen Spezialisten geben ihr keine Hoffnung. Mithilfe der zuerst verweigerten Medikamente wählt sie nun den Freitod.

Die zentrale Turmkonstruktion von Mariangela Mazzeo lässt sich in beiden Kurzopern drehen und gibt dadurch das Innere frei oder schließt es ein © Petra Moser

Regisseur Gregor Horres lässt in beiden Fällen eine andere Zeitebene mitspielen. Von Anfang an wird Tullio als psychisch angeschlagener, zumindest aber traumatisierter Mensch gezeichnet. Und das, was die Inszenierung ohnehin als Deutungsangebot darstellt, plaudert der Besetzungszettel ziemlich indiskret aus: Tullio erlebt in der Geschichte der sich von ihrer Familie trennenden Mutter seine eigene Kindheit wieder; er ist einer der Buben, die beim gewalttätigen Vater zurückbleiben. Verheddert sich hier also die Vergangenheit in einer Art Zeitschleife mit der Gegenwart, ist es bei Adriana eine ältere Frau in einem Krankenbett: Laut Besetzungszettel Adrianas Mutter, doch erscheint mir die Figur schlüssiger als ihre eigene, wie als Drohung vorhandene Zukunft, die sie nicht eintreten lassen will und deshalb lieber frühzeitig stirbt, ohne ihre Kinder wiedergesehen zu haben. 

Hier wie dort variiert Mariangela Mazzeo in ihrer Ausstattung eine zentrale Turmkonstruktion in der Mitte. Gebildet wird sie durch zwei Halbzylinder, konzentrisch angeordnet und wie aus leeren Fenster- und Türrahmen gezimmert. Der äußere Teil lässt sich drehen, gibt das Innere also frei oder schließt es ein. Die Spielfläche liegt dabei unmittelbar vor den paar ansteigenden Publikumsreihen, was zumindest bei einem großen Ausbruch dem expansionsfähigen Bariton Christoph Gerhardus als Tullio markerschütternde Präsenz verschafft. Die Dirigentin Jinie Ka und das Bruckner Orchester Linz mit jeweils einem als Farbe eingesetzten, kleinen Chor (Herren für das «Licht vom anderen Haus», Damen für «Die Reise») sind im Hintergrund tätig, aber klanglich zufriedenstellend vernehmbar.

Das vorangestellte Doderer-Zitat lässt sich auch im Hinblick auf die Musik deuten. Denn man darf sich den Komponisten Alois Bröder offenbar auch als jemanden vorstellen, an dem Erinnerungen an die Musikgeschichte herunterfließen, etwa an Gustav Mahler, insbesondere in der «Reise», oder ganz allgemein Giacomo Puccini. Einhundert Jahre nach dem Tod des Italieners denkt man an diesem Abend durchaus an eine Art „Dittico“, ein Operndiptychon, nach Puccinis fernem Vorbild – nur dass die dramatische Abwechslung fehlt, die sein «Trittico» bietet: Hier gibt es zwei Werke nach dem ungefähren Zuschnitt der «Suor Angelica», freilich erweitert in zeitgenössisch-atonale Ausdrucksareale, aber ohne einen packenden Reißer wie „«ll tabarro» und eine saftige Komödie wie «Gianni Schicchi». 

In der zweiten Kurzoper «Die Reise» stattete Saskia Sophie Maas die leidende Adriana mit dem passenden Sopranklang einer Schönheit unter Schmerzen aus. Im Hintergrund: Martin Enger Holm als Cesare © Petra Moser

Nichts gegen tiefe Melancholie, behutsame Zuneigung zu den Figuren und einen allgemeinen Hang zu Seelentönen, und Bröders Musik lässt sich auf einer emotionalen Ebene auch wirklich gut nachvollziehen. Problematisch und auf Dauer ermüdend ist allerdings der bedeutungsschwangere, verlangsamte Duktus, die gefühlte Zeitlupe, die sich nicht nur auf introspektive Phasen legt, sondern oft auch auf alltäglich wirkende Dialoggeplänkel. Schon klar, das drückt das Erleben einer traumhaften, surrealen Szenerie aus. Doch zieht es auch die ohnehin nicht rasend dicht gepackten Handlungen weiter in die Länge. Vielleicht liegt es auch ein bisschen an der Sprache: Gerade die Tatsache, dass Bröder die ersten Phrasen jeweils auf Italienisch singen lässt, bevor er auf Deutsch umschwenkt, weckt beim Hören die Sehnsucht nach einem lyrisch entrückten, italienischen „Original“. Mit vielen süffigen Mahler-Anspielungen, darunter einem langsamen Doppelschlag, wie er aus der Neunten bekannt ist, walzt sich das dann bei Adrianas Schicksal in Venedig über Gebühr aus. 

Das Publikum dankte es Bröder dennoch – und feierte im allgemeinen Jubel trotzdem die musikalischen Interpreten und Interpretinnen am meisten: Im «Licht vom anderen Haus» neben dem schon erwähnten Gerhardus auch die Mezzosopranistin Génesis Beatriz López Da Silva als Margherita Masci. Vor der Pause noch als Clotildina Nini beschäftigt, stieg Saskia Sophie Maas in «Die Reise» zur Adriana Braggi auf und stattete die Leidende mit dem passenden Sopranklang einer Schönheit unter Schmerzen aus, neben der der Tenor Martin Enger Holm als Cesare wohl stückbedingt etwas blass blieb.


«Il viaggio» (Die Reise) – Alois Bröder
«Das Licht vom anderen Haus» / «Die Reise»
Landestheater Linz · Musiktheater / Blackbox

Kritik der Uraufführung am 19. Oktober
Termin: 26./31. Oktober; 3./9./16./22. November