Volksoper Wien
Lieber Muse als Mutter
Alma Mahler-Werfel – Ehefrau, Geliebte und verhinderte Komponistin: «Alma» von Ella Milch-Sheriff errang mit Annette Dasch, Regisseurin Ruth Brauer-Kvam und Dirigent Omer Meir Wellber einen einhelligen Uraufführungserfolg
Walter Weidringer • 27. Oktober 2024
Alma Schindler, verwitwete Mahler, geschiedene Gropius, verwitwete Werfel: Salonière und Mäzenin, Zeitzeugin und wichtiger sozialer Knotenpunkt der Welt von gestern, die sich in den Jahren des Exils in den USA, im Kreise der Geflohenen, Vertriebenen, Überlebenden des Holocaust, neu formiert hatte. Diese Spätzeit freilich bleibt in «Alma» ausgespart: Allenfalls darf man die ersten beiden Akkorde der dunkel dräuenden Einleitung, die später wiederkehren, als Anklang ans Largo aus Antonín Dvoráks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ vernehmen – und insofern vielleicht als unausgesprochene Ahnung dieser Jahre.
Auf die Bühne der Volksoper hat Falko Herold eine Mischung aus Atelier und Remise gestellt. Atelier ist es für die Tochter Anna Mahler, als Kind „Gucki“ genannt, die Bildhauerin geworden ist: Sie arbeitet den ganzen Abend über an einer Büste ihres Vaters und gibt die Dialogpartnerin der Mama. Und Remise, eine Art Geisterbahnremise, um genau zu sein, ist der Raum für Alma: Die Schienen, die im Halbrund verlaufen, erlauben Alma gleich einen mondänen ersten Auftritt. Annette Dasch, mit mehrteiligem Fatsuit unter dem Abendkleid als betrunkene Vettel ausstaffiert (Kostüme: Alfred Mayerhofer), klettert, mit einer Zigarette bewehrt, etwas mühselig aus einem hereinzuckelnden Klavier. Da hat sich der erste Skandal des Stücks schon ereignet: Alma glänzte auf dem Begräbnis ihrer Tochter Manon gerade durch Abwesenheit: Die Gesellschaft, der tadellose Volksopernchor, der auch immer wieder die Proszeniumslogen bevölkert, ist entrüstet. Aber Alma war niemals bei den Beerdigungen all ihrer verstorbenen Kinder anwesend. Später taucht immer wieder das Personal ihrer Erinnerungen in solchen Geisterbahnwägen auf, deren Lok ein Totenkopfemblem vor sich herschiebt. Nein, es wird keine Komödie.
Für Ernst Krenek, ganz kurze Zeit ihr Schwiegersohn, war Alma Mahler ein klarer Fall. „Ihr Stil war der von Wagners Brünnhilde, transportiert in die Atmosphäre der ‚Fledermaus‘“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen „Im Atem der Zeit“. Ein „prächtig aufgetakeltes Schlachtschiff“ sei sie gewesen, „etwas korpulent, doch nicht zu sehr, und voll unerschöpflicher und scheinbar unzerstörbarer Vitalität. Sie hatte tatsächlich das Zeug dazu, das Leben zu einem schwindelerregenden Karussell zu machen. Ihr Verhalten war gegenüber allen, die ihr nahe kamen, äußerst simpel. Sie war automatisch darauf aus, sie zu hilflosen Untertanen ihrer Macht zu machen, und dabei ging sie zu überwältigenden Frontalangriffen vor, indem sie die Betreffenden nach allen Regeln der Kunst betörte und bezauberte. Ihre Strategie Frauen gegenüber mag komplizierter gewesen sein, aber wahrscheinlich war sie an Frauen nur insofern interessiert, als sie ihr dazu dienten, die Männer neben oder hinter ihnen zu erreichen. Die Grundelemente ihrer Strategie waren primitiv: Essen und Trinken. Ich bin kaum jemals mit ihr zusammengetroffen, ohne raffinierte, komplizierte und sichtlich teure Speisen und vor allem reichlich schwere Getränke aller Art serviert bekommen zu haben. Sie war in Hochform, wenn Sinne und Verstand ihres Gefolges gleichzeitig benebelt und erregt waren.“ Hat Krenek ihren Charakter in diesen Zeilen getroffen?
Alma Mahler-Werfel, wie sie sich verkürzt nach ihren beiden berühmtesten Ehegatten nannte: War sie wirklich eine solche Sphinx ohne Geheimnis? Ihre große Kunst, geliebt zu werden, die „Geliebte von vier Künsten“ zu sein, wie es auch in Ido Ricklins Libretto heißt, verkörpert durch den Komponisten Gustav Mahler, den Architekten Walter Gropius, den Maler Oskar Kokoschka, den Schriftsteller Franz Werfel: War diese Kunst, wenn sie ihr denn ins Konzept passte und sich lohnte, hauptsächlich durch überdurchschnittliche erotische Freizügigkeit sowie auch unbedingte Verfügbarkeit geprägt? Selbst wenn sie sich immer wieder in ihren Tagebüchern und anderen Äußerungen über ihre Männer – außer über Mahler! – antisemitisch und auch anderweitig abschätzig geäußert hat?
So wie in «Alma» nach Ricklins Text und mit der Musik von Ella Milch-Sheriff wurde ihre Geschichte jedenfalls noch nicht erzählt, schon gar nicht als Oper: nämlich mit dem Fokus auf ihre Tragik als Mutter, eine Mutter, die an ihren Kindern schon lange gescheitert ist, bevor sie sie durch frühen Tod verliert – oder, wie in Annas Fall, mit dem Überleben der „falschen“ Tochter auch nur schwer zurechtkommt.
Das Stationendrama in fünf Akten bewegt sich dabei in die Vergangenheit zurück: 1935 stirbt Manon, Almas Tochter mit Walter Gropius, mit 18 Jahren an Polio. Das Mädchen war jener „Engel“, dessen Andenken Alban Berg offiziell sein Violinkonzert gewidmet hat. – Während ihrer Ehe mit Gropius hat Alma eine Affäre mit Franz Werfel und wird von ihm schwanger. Rücksichtsloser Sex mit Werfel führt 1918 zu einer Frühgeburt: Martin, den Gropius und die Welt für ein eheliches Kind halten, ist schwer beeinträchtigt und stirbt noch im ersten Lebensjahr. – 1912 hat Alma, Mahlers junge Witwe, eine Affäre mit Oskar Kokoschka. Als sie ein gemeinsames Kind abtreiben lässt, hinterlässt das tiefe Wunden bei beiden. – Die kleine Maria Mahler, genannt „Putzi“, stirbt 1907 in Maiernigg am Wörthersee an Diphterie.
Das ist insofern ein Theatercoup, als der vom 41-jährigen Mahler salbadernd angeordnete Verzicht seiner 22-jährigen Braut auf jede kompositorische Tätigkeit im letzten Akt und die Feuerbestattung ihrer Partituren, vollzogen im Kreise ihrer späteren toten Kinder, als ihr erster, wahrer Verlust im Leben dargestellt wird. Mehr dramaturgisch und textlich als musikalisch treten auf diese Weise Anklänge an die «Frau ohne Schatten» des Duos Hofmannsthal / Strauss hervor, nicht nur in Gestalt von Annas offensichtlichen „Daddy Issues“ und ihrem Mutterkomplex. „Abzutun Mutterschaft auf ewige Zeit“, wie es in der «Frau ohne Schatten» heißt, künstlerische Mutterschaft nämlich, wird hier als jenes initiale Trauma der jungen Alma gezeichnet, das als düsterer Schatten alle ihre anderen Traumata erst hervorruft und in einen großen Zusammenhang stellt. Ohne Almas Schicksal im Geringsten relativieren zu wollen: Abgeschwächte moderne Echos eines solchen antiquiert wirkenden Verhältnisses hat auch die kürzlich 70 gewordene Ella Milch-Sheriff noch erlebt, mit ihrem zwanzig Jahre älteren Mann Noam Sheriff (1935-2018), einem der berühmtesten Komponisten Israels: Er hat ihr das Komponieren zwar niemals zu verbieten versucht, musste aber erst mit einigen Schmerzen über sich selbst hinauswachsen, um mit ihren eigenständigen Erfolgen zurecht zu kommen.
Ohne diesen Fokus auf das verbotene Künstlerinnentum wäre die ja trotzdem biografisch orientierte Oper «Alma» wohl Gefahr gelaufen, in erster Linie von den Männern zu handeln. So aber lässt sich auch erahnen, dass Alma sich vor allem als Frau und Geliebte hat selbst verwirklichen und spüren können. Das macht die Herren der Schöpfung, die allesamt schöpferische Herren waren und sein durften, durchaus zu Episodisten – und als solche dürfen sie tendenziell auch etwas blass bleiben. Alle tragen sie übrigens den Staub von einst, den Schnee vom vergangenen Jahr auf den Schultern. Die schönste Idee aber ist, Gropius als entrückten Tänzer darzustellen: Florian Hurler vollführt also im Hintergrund auf klare Linien bedachte Choreographien und scheint mit den Händen Gebäude hochzuziehen, während Werfel in Almas Leben tritt: Timothy Fallon wird da gleich von Papierblättern umweht – und erfüllt danach das Klischee des mit beherztem Heldenmut hohe Töne krähenden, eher kleinen und rundlichen Tenors, das auf Werfel rein äußerlich passen mag.
Ein paar Verlegenheits- oder Flüchtigkeitsfehler etwa in Martin Eidenbergers Projektionen (der Grinzinger Friedhof ist keineswegs ein Meer von Kreuzen, das Innere der Wiener Hofoper hat doch merklich anders ausgesehen als das hier verwendete Bild der Staatsoper) mag man dabei als Abstraktionen durchgehen lassen. Merkwürdig sind einige Stellen in Anke Rautmanns Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche: Dass Alma mit einer „Sahnetorte“ verglichen werden könnte, passt nicht so recht in die Hauptstadt des Schlagoberslandes, und dass in den Übertiteln parallel auf Englisch und Deutsch die „falschen Freunde“ „pathetisch“ und „pathetic“ auftauchen, verwundert noch mehr.
Jedenfalls schreckt Ruth Brauer-Kvam hier wie ganz allgemein in ihrer durchwegs sachdienlichen Regie auch vor einem angedeuteten sexuellen Realismus nicht zurück, der freilich gleichzeitig konterkariert wird durch den von Akt zu Akt immer weiter abgespeckten Fatsuit der Dasch: Auch als „nackte“ junge Frau trägt sie einen für heutige Bühnenbegriffe altmodischen, hautfarbenen Body. Diese Schutzhülle ist aber zugleich Symbol dafür, dass weder ihre Männer noch wir als Publikum Alma wirklich und vollgültig nahe kommen können. Auch und schon gar nicht Mahler (Josef Wagner), der sich entweder ganz seiner Musik widmet oder der kleinen „Putzi“: Gruselig, dass Alma, in postnataler Depression nach „Guckis“ Geburt, eifersüchtig auf die Liebe Mahlers zur älteren Tochter reagiert – und diese dann vergleichsweise rasch und unbemerkt stirbt. Sie ist allerdings als einziges der Kinder nicht auch als Gesangsrolle gestaltet, sondern wird nur von einer Statistin dargestellt. Zuvor gebärdet sich Manon (Lauren Urquart) wie eine «Hoffmann»-Olympia als Kunstwesen, und Christopher Ainslie verleiht dem kleinen Martin mit kindlichen Countertenorklängen zerbrechliche Gestalt.
Einzig Kokoschka in Gestalt des Baritons Martin Winkler strahlt unter Almas Liebes- und Heiratspartnern etwas Dämonisches, Kreatürliches aus, was sich auch in seiner zwischen SM-Gelüsten und gespielter Infantilität pendelnden Sexualität ausdrückt. Der dritte Akt mit ihm liegt direkt vor der Pause, da zieht auch die Komponistin Ella Milch-Sheriff alle dramatischen Register, und Omer Meir Wellber am Pult lässt sich das auch nicht zweimal sagen und fährt mit dem Orchester der Volksoper sämtliche brutalen Kräfte auf: Nach dem quälenden Hin und Her mit dem Ungeborenen, das mit meterlanger Nabelschnur über die Bühne stapft und sich mit Koloratursoprantönen vergeblich gegen die Abtreibung wehrt (Hila Baggio), kommt es zum großen Exzess. Kokoschka besteigt seine Alma-Puppe, eine Fetisch-Spezialanfertigung, die er sich hat machen lassen und die hier ins Überdimensionale gesteigert ist.
Milch-Sheriffs Musik ist von jenem modernen Zuschnitt, bei dem sich Stimmungen und stilistische Schattierungen mühelos aus dem jeweiligen dramatischen Zusammenhang erklären. Der Manon-Akt basiert auf à la Schostakowitsch verbeulten Walzerklängen, der Werfel-Akt hat viel mit Tangorhythmen zu tun, im Kokoschka-Akt kommt es immer wieder zu Marschgrotesken. Dabei nützt sie mehrfach musikalische Anverwandlungen, die wie Zitate wirken mögen, aber keine sind – etwa bei der Heurigenmusik am Anfang –, bis hin zu tatsächlichen Übernahmen, etwa Bachs „Erbarme dich“. Die nehmen dann bei Mahler etwas überhand, mit der Dritten Symphonie etwa: Das sind nicht die stärksten Passagen einer in Summe aber fraglos bühnenwirksamen, gut gebauten Partitur mit sangbaren Solopartien – wenn auch dort und da kleine Striche für einen strafferen Ablauf sorgen könnten, ohne dass dabei Wesentliches verloren ginge.
Annette Dasch als Alma: Das ist eine mögliche, wenn auch keine ganz zwingende Besetzung, weder darstellerisch noch rein stimmlich. Es hapert etwas an der Couleur locale; die Wienerin, den Vamp, die Salonière, so richtig glauben will man ihr nichts davon. Aber sie wirft alles in die Waagschale, was sie zur Verfügung hat und vollbringt eine achtbare Leistung in dieser in jeder Hinsicht fordernden Partie, deren zugrundeliegender Charakter letztlich doch ein Rätsel bleibt. Zur Stimme der Menschlichkeit wird neben ihr die Mezzosopranistin Annelie Sophie Müller als Anna, ein Opfer des Muttermonsters und zugleich ansatzweise ihre Therapeutin.
Am Ende steht die überlebensgroße Mahler-Büste, an der Anna den ganzen Abend über gearbeitet hat, ganz allein im Rampenlicht: Geht es doch wieder nur um den genialen Mann? Nein. Anna hängt ihr Almas Ketten um – und zeigt dieser Mahler nicht weibliche Züge?
«Alma» – Ella Milch-Sheriff
Volksoper Wien
Kritik der Uraufführung am 26. Oktober
Termine: 31. Oktober; 4./6./9. November