Oper Frankfurt
Urteufelin und Höllenrose
Die Frankfurter «Lulu» sieht die Protagonistin als Katalysator, der die schmutzigsten Seiten der Gesellschaft an die Oberfläche bringt – eine ebenso intensive wie ambivalente Inszenierung
Daniela Klotz • 06. November 2024
In den knappen Applaus zur Pause mischt sich das vernehmliche „Gott sei Dank“ einer Frau aus dem Publikum. Alban Bergs Zwölfton-Oper «Lulu» ist harter Tobak, die Frankfurter Inszenierung von einer Intensität, der man gern entrinnen möchte. Regisseurin Nadja Loschky fokussiert sich auf den Schmutz, der sich unter der Oberfläche einer patriarchalischen Gesellschaft verbirgt und unweigerlich hervorquillt, sobald sich nur der kleinste Riss in der polierten Fassade zeigt. Die Fassade, das sind bühnenhohe halbrunde Wände, die sich mit der Drehbühne umeinander und gegeneinander bewegen. Katharina Schlipf hat ein Bühnenbild geschaffen, das die von Irina Spreckelmeyer im Stil der Roaring Twenties eingekleideten Figuren sprichwörtlich einkreist.
Die Alphamännchen der in diesem unentrinnbaren Kreislauf befangenen Welt entpuppen sich gleich in der ersten Szene als das, was sie in Wahrheit sind: Tiger, Bär, Affe, Krokodil, Molch, Reptil – Raubtiere mithin. Der Tierbändiger (Kihwan Sim) stellt sie vor, und mit ihnen die Hauptattraktion seiner Menagerie: Die Schlange, „geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften – zu morden – ohne dass es einer spürt.“ Zudem: „Die unbeseelte Kreatur […]. Gebändigt durch das menschliche Genie. […]. Die süsse Unschuld - meinen grössten Schatz!“ – Man muss sich diese Zeilen, die Berg nach Wedekinds Vorlage selbst verfasste, auf der Zunge zergehen lassen, um zu verstehen, was die Intensität dieser Oper ausmacht.
In Frankfurt wird Lulu in diese Welt nicht geworfen. Sie wird gezogen, aus einem Schlammloch. Als Kind gehörte sie Schigolch an (über den Abend seltsam undämonisch: Alfred Reiter), der sie wohl missbrauchte und missbrauchen ließ und bis zu ihrem Tod nicht frei-, aber auch nicht verlässt. Das Schlammloch ist also Symbol der Gosse, aus der Dr. Schön (souverän: Simon Neal) Lulu befreit. Doch indem er sie in seine Welt bringt und sie – mehr Higgins als Pygmalion – lehrt, sich in dieser zu behaupten, öffnet er die Büchse der Pandora. Denn Lulu (am Ende für ihre wahrhaft selbstmörderische Leistung umjubelt: Brenda Rae) bleibt, was sie ist: Das dämonische, das Ur-Weibliche, das gerade den Mann der Jahrhundertwende ebenso faszinierte wie ängstigte. Interessanterweise geben ihr all die Männer, die an ihr / durch sie zugrunde gehen, Namen. Nelly, Eva, Mignon, … Undine, Melusine, Kundry, Salome fehlen in der Aufzählung, sind aber mitgedacht und von Berg noch zugespitzt durch die Erkenntnis des Malers (Theo Lebow), dass Lulu noch nie geliebt hat.
Welchen der Männer, die sie nur auf das Einzige, das ihr je gehört hat – den Körper –, reduzieren, sollte sie auch lieben? Den Athleten (Kihwan Sim sorgt für die Komik, die keiner Tragödie fehlen darf) nutzt sie wie Alwa (AJ Glueckert) und all die anderen Männer, die letztlich als Leichen ihren Weg pflastern, nur aus. Schön ist sie verfallen. Sie setzt alles daran, von ihm geheiratet, geliebt zu werden – eine Seele zu erlangen, wie es sich die Undinen-Wesen in der Phantasie der Literaten seit Ewigkeiten wünschen. Doch bei Berg ist die Zeit der Sagen und Legenden am Ende. Lulu bleibt diese zweifelhafte Seligkeit, Mensch zu werden, untersagt. Nicht einmal die bedingungslose Hingabe der Gräfin Geschwitz (Claudia Mahnke) erweckt ein anderes Gefühl als Selbstsucht in diesem freilich von der Männergesellschaft vollkommen deformierten Wesen, das laut Nadja Loschky der Katalysator sein soll, der den unter der Oberfläche verborgenen Schmutz der Gesellschaft an die Oberfläche bringt.
Und ab hier wird es etwas schwierig mit der Regie-Idee. Thomas Guggeis’ Dirigat merkt man an, wie intensiv er sich mit Bergs Musikwelt auseinandergesetzt hat. Wie Berg die einzelnen Figuren mit Instrumenten, Klangfarben, Gattungen charakterisiert, wie Friedrich Cerha das im von ihm vollendeten dritten Akt fortführt – all das tönt in einer ganz eigenen, der Lulu-Reihe jede Unverständlichkeit nehmenden Art aus dem Graben. Denn Berg, das ist auch Strauss und das ist auch Wagner. Und das sind Frauenfiguren wie Kundry, wie die Frau ohne Schatten, wie Salome. Letztere mag noch am ehesten mit „Schmutz“ zu tun haben, mit dem triebhaften Es, wenn man Jochanaan als Gefangenen in der Zisterne als solches deuten möchte. Ansonsten ist es gewagt, eine Frauenfigur, die aus der Idee der femme fatale / femme fragile geboren wurde, derart mit Schmutz in Verbindung zu bringen, dass die Regisseurin (Webseite, Programmheft) sagen kann, man sei in einem sauberen Raum gestartet, der am Ende alles andere als das sei. Lulu sei untergegangen, habe aber Spuren hinterlassen. Ist es nicht eher umgekehrt so, dass Lulu an der Gesellschaft zerbricht, weil diese ihre schmutzigsten Seiten auf sie projiziert? Dass Lulu erkennen muss, dass sie inmitten der selbstsüchtigen Alphamänner keinen Bestand haben kann?
Dass sie, letztlich vollkommen besudelt und allen Glanzes der Gattin, Tänzerin, Verführerin beraubt, sich selbst ins Messer des als dunkler Doppelgänger Schöns auftretenden Jack the Ripper (auch Simon Neal) stürzt, erklärt sich auch nicht so recht. Ist das wirklich ihre einzige selbstbestimmte Entscheidung? Hat Lulu in der Prostitution erkannt, dass sie der Gräfin doch ähnlicher ist als sie dachte? Von der sagt Schigolch in der Londoner Bruchbude, es sei eine schlechte Idee gewesen, dass sie ebenfalls auf die Straße gegangen sei: „Die kann von der Liebe nicht leben, denn die Liebe ist ihr Leben“. Ein bestechender Satz, der unter umgekehrten Vorzeichen genauso auf Lulu zutrifft.
Hätte man der Anima genannten Doppelgängerin (Evie Poaros), die immer wieder als Urschlamm-Lulu erscheint und bei Lulus Tod wieder im Schlammloch verschwindet, vielleicht das Kostüm der Geschwitz anziehen sollen? Sie ginge zurück nach Deutschland, würde sich immatrikulieren, Jurisprudenz studieren, sich für Frauenrechte engagieren, legt man der Gräfin in Frankfurt in den Mund. Das ergibt einen seltsam unpassenden Moment, der dem Kern der Geschichte aber doch sehr nahe kommt. Die Lulu von heute würde vermutlich immer noch gegeißelt werden, weil sie sich die Männer nimmt, wie sie sie braucht. Sie würde dafür aber nicht ausgestoßen, sondern als Influencerin bewundert. Vielleicht ist es dieses unzeitgemäß Zeitgemäße, das diese so intensive Frankfurter Inszenierung gleichzeitig schwer verdaulich und faszinierend macht? Das Publikum dankte mit langanhaltendem Schlussapplaus, der Sänger, Orchester (vollkommen zu Recht auf der Bühne stehend) und Regie gleichermaßen feierte.
«Lulu» – Alban Berg
Oper Frankfurt · Opernhaus
Kritik der Premiere am 3. November
Termine: 7./9./15./17./23./28. November
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OPE[R]NTHEK / OPER FRANKFURT
Ein Wesen wie ein Sprengsatz. – Von: Mareike Wink, in: Lulu, Alban Berg 1885-1935, Magazin, Oper Frankfurt, November / Dezember 2024, S. 6-7.