Festival Janáček Brno
Er wäre stolz gewesen
Die neunte Ausgabe des alle zwei Jahre vom Brünner Nationaltheater organisierten Festivals ging mit zwei hundertjährigen Jubiläen gefeiert zu Ende
Stephan Burianek • 29. November 2024
Bei einem Spaziergang durch Brünn grüßt der berühmte Mähre in der ganzen Altstadt, und seinen Hund hat er auch immer dabei: Obwohl in einem kleinen Dorf in der nordmährischen Lachei geboren, gilt Leoš Janáček als Sohn der Hauptstadt. Bereits als Elfjähriger wurde er, der musikalisch talentierte Junge aus ärmlichen Verhältnissen, in die Klosterschule des Brünner Augustinerklosters aufgenommen – zu einer Zeit, als der Mönch und Naturforscher Gregor Mendel dort tätig war. Als Teil des Habsburgerreichs sprach die Elite damals Deutsch, woran sich der bodenständige Provinzler – der später sogar Fahrten mit den Straßenbahnen gemieden haben soll, weil sie in der Hand der „Deutschen“ waren – nicht gewöhnen wollte. In der frisch gegründeten Tschechoslowakei formte er nach seinem späten, internationalen Erfolg mit der Oper «Jenufa» die tschechische Kultur maßgeblich mit. Bedřich Smetana und Antonín Dvořák mögen in der klassischen Musik noch immer die bekannteren Namen sein, trotzdem ist Janáček mittlerweile der weltweit am häufigsten gespielte tschechische Opernkomponist und liegt in der jährlichen Aufführungsstatistik weit vor Zeitgenossen wie Claude Debussy oder Arnold Schönberg.
Wenn Janáček nun also in Lebensgröße als zweidimensionale Figur an Wegweiser-Stangen befestigt oder auf Fensterscheiben der Gastronomie geklebt wurde, dann sind wieder zwei Jahre herum, dann ist Janáček-Festivalzeit. Die neunte Ausgabe dieser vom Brünner Nationaltheater organisierten Festspiele lockte einmal mehr mit Kammerkonzerten in den Villen Tugendhat, Stiassni und Löw-Beer sowie mit nationalen wie internationalen Opern-Gastspielen. Ein Höhepunkt war in diesem Jahr die gefeierte Neuinszenierung von Janáčeks komischer Oper «Výlety páně Broučkovy» (Die Ausflüge des Herrn Brouček) durch den Regisseur Robert Carsen, die demnächst an der Berliner Staatsoper Unter den Linden und später nach Madrid ans Teatro Real touren wird.
Unterschätzter Epigone und guter Freund
Man setzte den großen Eigenbrötler auch in Kontext zu seinen Zeitgenossen und Epigonen: Die Oper «Šarlatán» (Der Scharlatan) von Pavel Haas wurde als Gastspiel des Mährisch-Schlesischen Nationaltheaters in Ostrau (Ostrava) gezeigt. Zudem durfte das Ensemble des Brünner Nationaltheaters in David Radoks psychologisch-symbolistisch gedachter, wiewohl ein wenig blutleer wirkender Inszenierung von Antonín Dvořáks «Rusalka» (ohne Jäger und Küchenjunge) zeigen, dass es sein großes Opernhaus, das Janáček-Theater, mit kräftigen Stimmen füllen kann: Kateřina Kněžíková zeigte mit ihrer Fähigkeit zur Attacke und mit eindringlichen Spitzentönen, dass sie eine dramatische Rusalka ist, deren phasenweise scharf klingende Stimme auch in den leisen Passagen gut trägt. Als Prinz wirkt Peter Berger in der Höhe mitunter angestrengt, brilliert aber an den entscheidenden Stellen, und Jan Šťáva zeigt als Wassermann eine herrlich-schöne Tiefe, dessen Lied an Rusalka im zweiten Akt man sich kaum eindringlicher wünschen kann.
Zwei Jubiläen
Der Alltag des Komponisten spielte sich innerhalb eines kleinen Lebensradius von wenigen hundert Metern ab, wie ein Spaziergang auf Janáčeks Spuren zeigt (siehe Link unten). Nur wenige Schritte sind es beispielsweise von seinem kleinen Wohnhaus neben der von ihm begründeten Orgelschule zur Aula der Masaryk-Universität. Der Nicht-Akademiker Janáček war der Erste, dem im Januar 1925 von dieser erst sechs Jahre zuvor gegründeten Hochschule der Ehrendoktor-Titel verliehen wurde. Bis zu seinem überraschenden Tod dreieinhalb Jahre später trug er ihn fortan mit großem Stolz, wie auch ein Brief Janáčeks an seine Muse Kamila Stösslová bezeugt.
In ebendieser Aula gedachte man am letzten Festival-Wochenende im Rahmen einer würdigen Feier dem 100-jährigen Jubiläum dieser Doktorwürde-Verleihung: Der um die Janáček-Forschung hoch verdiente Musikwissenschaftler und Komponist Miloš Štědroň und der Komponist Petr Kotík hielten, freilich auf Tschechisch, jeweils eine Rede, und der Chor des Mährischen Lehrer-Gesangsvereins intonierte wacker Chorlieder, die der Laureat vorrangig in seinen frühen Jahren komponierte. Auch schön: Dem Programmheft wurde ein Nachdruck jener Publikation beigelegt, die seinerzeit zur Dokumentation der Verleihung publiziert worden war.
Am letzten Abend stand im Janáček-Theater eine Festvorstellung zum ebenfalls 100. Jahrestag der Uraufführung der Oper «Příhody lišky Bystroušky» (Das schlaue Füchslein) auf dem Programm, die am 6. November 1924 stattgefunden und mit der sich Janáček selbst ein Geschenk zum 70-jährigen Geburtstag gemacht hatte. Erstklassig getragen wurde der Abend von Adam Plachetka als Förster, in der Titelpartie kämpfte Kateřina Kněžíková (am Tag nach ihrer Rusalka) zwar ein wenig beim Sprechgesang, brillierte aber mit kräftig gehaltenen Tönen. Man sollte die Handlung kennen, um der bunten Inszenierung von Jiří Heřman aus dem Jahr 2018 folgen zu können. Er verlegte sie in das Kinderheim Dagmar, welches auf Initiative des Librettisten Rudolf Těsnohlídek in Brünn für einsame Kinder errichtete wurde, wobei Heřman dem Slapstick und viel Bewegung den Vorzug gegenüber eines tieferen Sinns gab. Durchaus witzig: Die spießige Frau des Försters (Daniela Straková-Šedrlová) strickt die ganze Zeit an einem Riesenschal – bis dieser am Ende bis in den Schnürboden hinauf reicht. Ebenso wie tags zuvor in der «Rusalka» dirigierte Marko Ivanović routiniert das Orchester des Brünner Nationaltheaters.
Die andere Stadt
Vielleicht aber pulsierte Janáčeks Geist während des Festivals nirgendwo so stark wie im Theater auf der Orlí-Straße (Divadlo na Orlí). In dieser von der Janáček-Musikakademie (JAMU) geführten Blackbox in der Innenstadt zeigte die freie Truppe Ensemble Opera Diversa, welch fruchtbarer Boden die Stadt Brünn in musikalischer Hinsicht bis heute ist: «Druhé město» (Die andere Stadt) heißt eine von Ondřej Kyas geschriebene und komponierte Nummernoper, die ausschließlich mit Brünner Kräften gestemmt wurde – und die eine unbändige kreative Energie in dieser Stadt offenbart, die eine musikalische Schaffenskraft ebenso umfasst wie die Regiekunst.
Ein Erzähler führt durch eine surreale Handlung nach dem gleichnamigen Roman des tschechischen Gegenwartsautors Michal Ajvaz: Der lediglich als „A.“ bezeichnete Protagonist entdeckt nach dem Kauf eines mysteriösen Buchs, dass in seiner Heimatstadt Prag eine Parallelwelt existiert: Auf dem Petrin-Hügel findet er einen geheimen Tempel, und eine ominöse Straßenbahnlinie führt direkt in diese Anderswelt, in der die Menschen mit Wieseln in ihren Händen herumlaufen. Es ist eine verzweigte Handlung wie ein Fiebertraum, mit denen Michal Ajvaz, der laut Wikipedia viele Jahre lang als Hausmeister eines Wasserwerks gearbeitet hat, über mehrere Nebenhandlungen zu Gedankenexperimenten verführt. Es verwundert, dass Ajvaz‘ Werke zwar in zahlreichen Sprachen übersetzt wurden, aber offenbar noch nicht auf Deutsch verfügbar sind. Seine magisch-realistische Erzählweise erinnert einerseits an lateinamerikanische Vorbilder und scheint zugleich an die große Prager Literatur vor hundert Jahren, wie etwa Kafka oder die Capek-Brüder anzuknüpfen.
Kyas‘ Partitur kommt in vielen Farben, und man hört gerne zu: Mal mischen sich melancholisch gefärbte Reminiszenzen mit spannungsgeladenem Streicherflirren, mal drängt die Musik dramatisch nach vorne, mal schwebt sie geheimnisvoll. Erfreulich ist auch, dass der Klang entgegen der derzeitigen Konvention nahezu puristisch erzeugt wird – mit Ausnahme eines Keyboards wird weder in dem mittelgroßen Orchester (Leitung: Gabriela Tardonová) noch bei den Sängern elektronisch verstärkt.
Sämtliche Sängersolisten wurden in Brünn ausgebildet, sie klingen alle gut, darunter Aleš Janiga als A., Jana Vondrů als Priesterin bzw. Kellnerin und Pavel Slivka als Barkeeper bzw. Tempelwächter. Die Inszenierung unter der Leitung von Kateřina Křivánková fasziniert mit einfachen, kreativ eingesetzten Mitteln mit hoher Wirksamkeit. Der Schauspieler Lukáš Rieger betätigt sich darin nicht nur als Erzähler, sondern auch als Kameramann – während er über seinen Flug über Prag berichtet, dient ihm etwa eine Bierdose auf seinem Schreibtisch als Anschauungsobjekt.
Sollte es so etwas wie einen Himmel geben, von dem die Geister herabblicken können, dann wäre ein ganz bestimmter Mähre mit Doktortitel zweifellos stolz angesichts des musikalischen Stellenwerts, den Brünn nicht zuletzt dank seiner Hilfe bis heute hat.
Die 10. Ausgabe des Janáček-Festivals findet vom 15. Oktober bis 17. November 2026 statt.
Weitere Termine «Rusalka»: 6./30. Dezember 2024; 25. Januar, 4. Mai 2025
Zum Thema
In Brünn auf den Spuren Leoš Janáčeks: https://www.leosjanacek.eu/de/ -- in den Verkaufsstellen des Brünner Tourismusamts ist für wenig Geld auch ein schön gedrucktes Buch auf Deutsch erhältlich.