Opéra National de Lorraine
Eine Gothic-Heldin namens Aschenbrödel
In Nancy passt eine schräge Neuinszenierung von Rossinis «Cenerentola» erstaunlich gut in die Weihnachtszeit
Werner Kopfmüller • 22. Dezember 2024
Als Disney-Produkt leuchtender Herzigkeit kennt es jeder: Das Märchen von Aschenputtel. Drangsaliert von der bösen Stiefmutter, verachtet von ihren Stiefschwestern, findet Cinderella, wie die Heldin im amerikanischen Zeichentrickfilm von 1950 heißt, am Ende dank Zauberkraft doch noch das große Glück und gewinnt den Prinzen für sich. Das Gute triumphiert.
„Triumph des Guten“ lautet auch der Nebentitel zu Gioachino Rossinis «La Cenerentola», seiner 1817 uraufgeführten Opera Semiseria. Allerdings: Mit der Walt-Disney-Version hat Rossinis Adaption nur wenig zu tun. Es gibt zwar die arme Angelina, die von ihren zänkischen Schwestern gedemütigt und von einem Prinzen geliebt wird, aber keinen Kürbis, der in eine Kutsche verwandelt wird, und keine Mäuse, die als Kutscher verkleidet daherkommen. Es gibt, als Erkennungsmerkmal für die Auserwählte, nicht einmal einen Lederpantoffel, der hier durch Kristallarmbänder ersetzt wird. Und die böse Stiefschwester ist bei Rossini ausgetauscht durch einen so kaltherzigen wie aufgeblasenen Stiefvater.
Den letzten kleinen Rest Märchenseligkeit treibt dem Stück nun Fabrice Murgia aus, in seiner Inszenierung an der Opéra National de Lorraine in Nancy, einer Koproduktion mit den Théâtres de la Ville de Luxembourg, der Opéra de Reims und dem Théâtre de Caen.
Ob man so weit gehen muss, in Angelina eine protofeministische Figur zu sehen, wie Murgia sie in einem Interview für ARTE verstanden wissen will, ist dabei einerlei, weil die sehr heutige, sehr schräge Inszenierung auch so funktioniert und begeistert – und das Werk in Nancy für ein vollbesetztes Haus sorgt wie hierzulande der Vorweihnachtsklassiker «Hänsel und Gretel». Überhaupt scheint in der lothringischen Département-Hauptstadt, dessen Opernhaus sich als eines von fünf außerhalb von Paris mit dem Titel „Nationaloper“ schmücken darf, eine eigene Rossini-Donizetti-Tradition zum Jahresende etabliert worden zu sein, wenn man die vergangenen Spielpläne des nach dem Stagione-System geführten Hauses betrachtet. Warum auch nicht? «La Cenerentola» ist ohnehin eine der eigentümlichsten Rossini-Opern, die sich in kein stilistisches Korsett zwingen lassen wollen: eine Buffa mit tragischen Schlaglichtern, eine Komödie mit Elementen des Zauberspiels.
Auch Cenerentola respektive Angelina durchläuft eine bemerkenswerte Entwicklung, von der schlichten, das glückliche Ende vorwegnehmende Auftrittsarie („Una volta c’era un re“ / Es war einmal ein König) bis zum fulminant-virtuosen Schlussensemble. Bezeichnend ist, wie die titelgebende Protagonistin von der Regie geführt wird. Als dickköpfiger Teenager im Gothic-Look nämlich, der sich hinter Jalousien ins Dachkammer-Zimmer verkrümelt, um dort ungestört an seinen Leichenteilen zu basteln. Beth Taylor singt die Partie dieser Eigenbrötlerin, die sich später als mächtige Hexe entpuppen wird, mit kräftigen Bronzetönen und prunkenden Koloraturen. Wenn man Regisseur Fabrice Murgia etwas ankreiden muss, dann, dass er in seinem Manöver, das Märchen konsequent gegen den Strich zu bürsten, allzu unbekümmert Zeitgeistiges und Figuren des Zeitgeschehens ausstellt. Und sich für Bühne (Vincent Lemaire) und Kostüme (Clara Peluffo Valentini) zwar nicht an Disneys, dafür aber an den schräg-liebevoll eingerichteten Filmwelten des Gothic-inspirierten Hollywood-Regisseurs Tim Burton ausgiebig bedient. Die ständigen Found-Footage-Videoprojektionen fallen da nicht weiter ins Gewicht.
Das in Nancy sehr junge Ensemble liefert dazu recht unterschiedliche Leistungen ab: Rundweg überzeugen können neben Beth Taylors großartiger Angelina ihre zwei zu verheiratenden, gegeneinander giftelnden Schwestern Clorinda (Héloïse Poulet) und Thisbe (Alix Le Saux), beide im aufgebrezelten Barbie-Look mit Selfie-Stick unterwegs. Sie sind der ganze Stolz ihres depperten Vaters Don Magnifico, den Gyula Nagy als Proll im Trainingsanzug mit trumpesker MOGA-Kappe („Make Opera great again!“) gibt. Allerdings fehlt ihm darstellerisch die für diese Rolle erforderliche Geschmeidigkeit eines Bass-Buffo, und stimmlich außerdem die Durchschlagskraft. Die hat Sam Carl umso mehr. Sein Philosoph Alidoro ist ein gewiefter Spielmacher von fesselnder Präsenz, der die Fäden zusammenhält in der Maskerade zwischen Dandini (Alessio Arduini mit verführerischem Timbre, aber schwächelnder Intonation) und dessen Herrn Don Ramiro. Dave Monaco verkörpert den Prinzen mit einem mühelos durch die Koloraturen flirrenden, höhensicheren Tenor. Highlight des Abends: Sein Duett „Un soave non so che“ an der Seite der auserwählten Angelina.
Der von Guillaume Fauchère präparierte Männerchor kommt optisch zwar als abstoßende Horde Zombies daher, singt jedoch außergewöhnlich kultiviert, präzise und beweglich. Überraschend ist auch, was Giulio Cilona am Pult des Orchestre symphonic et lyrique de Nancy gelingt. Er setzt auf einen frühromantisch hellen Orchesterklang, mit feinziselierten Holzbläsern und behutsamen Steigerungen in den für Rossini so typischen, langgezogenen Crescendi. Manchmal, wie in der Ouvertüre, klingt das ein wenig zu brav und dezent, aber über den gesamten Abend immer vorbildlich sängerdienlich.
Angelina gewinnt im Lieto fine nicht nur den Prinzen für sich, sondern beweist zudem Güte und Nachsicht vor der missgünstigen Verwandtschaft – was angesichts der bevorstehenden Festtage eine sympathische Schlussbotschaft ist: Bitte, lasst uns dieses eine Mal verzichten auf den alljährlichen Familienstreit zu Weihnachten!
«La Cenerentola» – Gioachino Rossini
Opéra National de Lorraine · Opernhaus
Kritik der Vorstellung am 17. Dezember
Termin: 22. Dezember