Na’ama Goldman
„Wir müssen Farben zulassen“
Die israelische Mezzosopranistin im Interview über das Jüdischsein im Gestern und Heute, ihre Aufgabe als Künstlerin, über Frauen im Krieg und geheime Skizzen
Stephan Burianek • 09. Januar 2025
Im Jahr 2023 ist Ihr Solo-Album „Legata. A musical biography” erschienen, das man als einen Querschnitt durch jüdische klassische Musik sehen kann. Mussten Sie erst nach Deutschland ziehen, um Ihre jüdische Herkunft zu reflektieren?
Ich bin aus beruflichen Gründen nach Deutschland gezogen, außerdem ist Berlin scheinbar der einzige Ort in Europa, der eine spezielle Aufenthaltserlaubnis für ausländische Freischaffende anbietet. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in dieser Stadt so stark mit der Familiengeschichte konfrontiert sein würde. Wir Künstler sind ja meistens international orientierte Freigeister und Nomaden, die sich nirgendwo und überall zugehörig fühlen. Aber man wird in Berlin überall mit der schwierigen Geschichte der Stadt konfrontiert. Zufällig ist die Familie meines Vaters ursprünglich aus Berlin, und es war wichtig für mich, die ehemaligen Wohnorte meiner Vorfahren aufzusuchen. Ich habe sogar eine Bar gefunden, in der mein Großvater früher vielleicht Bier getrunken hat. Das berührt mich schon.
Hat Berlin Ihre Beziehung zum Jüdischen verändert?
Ich bin nicht religiös, aber ich bin Teil der jüdischen Kultur und stolz auf ihre reiche Tradition. Das verhält sich ähnlich wie Menschen aus der christlichen Kultur, die zwar Weihnachten feiern, aber nie in die Kirche gehen und beten.
„Legata“ ist die feminine Form des musikalischen Ausdrucks „Legato“. Bezieht sich der Titel des Albums auf die Stellung der Frau in der jüdischen Gesellschaft?
Für mich war es eher ein Wortspiel: „Legato“ kommt ja vom italienischen „legare“ und bedeutet „verbinden“ bzw. „zusammenfügen“, und „Legata“ bedeutet dann gleichsam „Die Verbundene“. Nachdem das Album einen jüdisch-deutschen Fokus hat, wollte ich auch einen Hauch Italienisch hinzufügen, da ich Italien eigentlich als meine zweite Heimat bezeichne.
In einem ansprechend produzierten PR-Video (siehe Link unten) meinen Sie, es gebe selbst in der Musik von nichtgläubigen Juden etwas Jüdisches. Bei Mahler habe ich aber immer das Gefühl, er wollte trotz seiner mährischen Herkunft immer so „typisch deutsch-österreichisch“ wie möglich sein und hat das Jüdische vor der Öffentlichkeit versteckt.
Gustav Mahler wie auch Erich Korngold sahen sich als Teil des österreichischen Kulturlebens. Aber die Gesellschaft wies die beiden stets darauf hin, dass sie angeblich anders seien, und beide haben sich dazu geäußert. Sie haben sich stets bemüht dazuzugehören, aber sie wurden von der Gesellschaft nicht als Teil von ihr akzeptiert. Das muss im Unterbewusstsein, ebenso wie ihre Erziehung innerhalb der jüdischen Tradition, auch irgendwie ihren musikalischen Ausdruck beeinflusst haben.
Man findet immer wieder ein Sehnen und eine bittere Schwere in ihrem Werk.
Exakt! Das Jüdische findet ihren Ausdruck nicht in jüdischen Motiven, sondern in dem Gefühl, die Gesellschaft nie zufriedenstellen zu können und von ihr der Gesellschaft stets verurteilt zu werden. Jeder Mensch wird unabhängig von seiner Herkunft und Religion von vielen Einflüssen geprägt, die sich in der künstlerischen Arbeit wiederfinden.
Wie empfinden Sie das selbst heute?
Ich glaube sehr stark an die Kraft von Kultur und Musik, da sie uns daran erinnern, dass es eine gemeinsame, pure und grundlegende Wahrheit innerhalb der gesamten Menschheit gibt. Wir leben derzeit in einer Zeit des Separatismus, der auf einer strikten Einteilung in Schwarz und Weiß basiert. Kultur ist ein Weg der Menschheit zu analysieren und auszudrücken, was wir als Individuum oder als Gesellschaft durchleben. Sie dient uns gleichsam als Spiegel. Sie ist ein grundlegendes Werkzeug in einer Sprache, die wir alle sprechen. Gleichzeitig zeigt sie uns, dass wir eben komplexe Wesen sind, die sich zumeist nicht in Schwarz oder Weiß einteilen lassen. Wir müssen in unserem Leben Farben zulassen. Das ist ein ambitioniertes Ziel, aber ich glaube an die Fähigkeit der Musik, kulturelle Brücken bauen zu können.
Aber wie empfinden Sie das Jüdisch sein in unserer derzeitigen Gesellschaft? Fühlen Sie sich manchmal ausgeschlossen?
Nein, gar nicht. Ich spüre ganz im Gegenteil sehr viel Unterstützung aus der ganzen Welt. Ich treffe außerdem ganz viele Menschen, die an einem offenen Dialog interessiert sind. Ich glaube wirklich an das grundsätzlich Gute im Menschen und folglich an eine offene Gesellschaft.
Vor mehr als einem Jahr haben Sie während des Wexford Festivals in Irland die Titelpartie in «La ciociara» gesungen. Diese relativ neue Oper von Marco Tutino basiert auf einer Geschichte, die u.a. im Jahr 1960 mit Sophia Loren verfilmt wurde. Die Handlung thematisiert Frauen als Vergewaltigungsopfer im Krieg – ein zeitloses Thema, das eigentlich kein gutes Bild unserer in diesem Fall männlich dominierten Gesellschaft zeichnet.
Der Titel des Festivals war „Frauen im Krieg“, und «La ciociara» war in diesem Zusammenhang eine von drei gespielten Opern. Man erinnert sich immer an die Sieger, aber das Schicksal der zurückgelassenen Frauen und Kinder findet selten Beachtung. Inmitten der Proben, am 7. Oktober 2023, passierte dann der Terroranschlag der Hamas, der zu dem Krieg führte, der leider bis heute andauert. Von jenem Moment an, als wir die Bühne betraten, spürte ich eine unglaubliche Sensibilität im Publikum, und die Produktion wurde trotz ihrer ziemlich harten Handlung frenetisch gefeiert. Ich sehe es als Künstlerin als Teil meiner Aufgabe, Dialoge zu ermöglichen. Während desselben Festivals habe ich auch einen Liederabend mit dem Programm meines „Legata“-Albums gegeben.
In „Legata“ gibt es eine Welt-Ersteinspielung – ein Lied, das mit Ihrer Großmutter zu tun haben soll?
Meine Großmutter mütterlicherseits und ihre Schwester waren Volksmusik-Sängerinnen. Über meine Großmutter sagt man, sie hätte eine ganz außergewöhnliche Stimme gehabt, nur leider verlor sie diese, als sie ungefähr in meinem Alter war. Als ich geboren wurde, hatte sie bereits eine raue Stimme. Als die Schwester meiner Großmutter starb, fanden wir in ihrem Nachlass eine handgeschriebene Liedkomposition von einem gewissen David Sonnenschein, der dieses Lied meiner Großmutter gewidmet hatte. Es war ein Liebeslied. Wir fragten meine Großmutter, wer dieser Herr Sonnenschein war und sie erklärte, das sei ein Geiger und der Ex-Freund ihrer Schwester gewesen bevor er eine andere geheiratet hat. Meine Großmutter wusste nichts von dieser Komposition, ihre Schwester hatte sie also vor ihr geheim gehalten. Wir fanden das in der Familie ziemlich lustig.
Sie fingen als Pianistin an und haben Komposition studiert. Komponieren Sie noch manchmal?
Am Anfang stand bei mir das Klavier, das stimmt, ich habe erst in meinen Zwanzigern zu singen angefangen. Mit dem Klavier bin ich bis heute stark verbunden, und vor wenigen Jahren habe ich tatsächlich angefangen, Noten niederzuschreiben. Es gibt mittlerweile einige Skizzen und ich habe zahlreiche Ideen, die ich gerne fortführen möchte – aber das ist eigentlich noch ein Geheimnis.
Das Gespräch erfolgte im Dezember 2024 im Rahmen eines Online-Videocalls.
Na'ama Goldman wurde in Israel geboren, wo sich als Mitglied des Meitar Opera Studios der Israeli Opera ihre ersten beruflichen Erfahrungen sammelte. Obwohl die Mezzosopranistin bislang in fast dreißig Produktionen an der Israeli Opera zu erleben war – etwa als Carmen, Donna Elvira oder Idamante –, ist die in Berlin lebende Weltenbürgerin längst international gefragt. Zuletzt war sie u.a. beim Wexford Festival Opera in der Hauptrolle von Marco Tutinos Oper «La ciociara», als Charlotte in «Werther» an der Dänischen Nationaloper, in der Titelpartie von «L'enfant et les sortilèges» (Das Kind und der Zauberspuk, Ravel) an der Ópera de Tenerife und als Maffio Orsini in «Lucrezia Borgia» am Aalto Musiktheater Essen zu erleben. Goldman arbeitet derzeit an ihren Rollendebüts als Adalgisa in «Norma» und als Giovanna Seymour in «Anna Bolena» (wo, das darf derzeit noch nicht verraten werden).
Die Idee zum Album „Legata. A musical biography” (2023, Solo Musica) entstand bereits 2015, als der Pianist Giulio Zappa und Na’ama Goldman zu einem Recital in Mailand eingeladen wurden, um den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu begehen: „Wir haben uns daraufhin ein entsprechendes Konzept überlegt und dafür in Bibliotheken recherchiert“, so Goldman. „Während des Konzerts haben wir bereits gemerkt, wie sehr das Programm das Publikum angesprochen hat.“ Nach wie vor werden die beiden regelmäßig eingeladen, um die Lieder in vier Sprachen u.a. von Korngold, Mahler, Weill und Ravel zu wiederholen. „Durch dieses Programm habe ich auch einen Teil meiner eigenen Persönlichkeit gefunden, und zugleich konnte ich ihm meinen persönlichen Stempel aufdrücken“, resümiert Goldman heute.
Zum Thema
YOUTUBE / SOLO MUSICA
„Legata“-Promotion-Video
YOUTUBE / RTÉ - IRELAND’S NATIONAL PUBLIC SERVICE MEDIA
Video-Aufzeichnung von «La ciociara», Wexford Festival Opera 2023