Nachruf
Ein Leben für die Bühne
Zum Tod von Otto Schenk, oder: Ein Überblick auf eine Epoche
Edwin Baumgartner • 10. Januar 2025
Mehr als 70 Jahre prägte Otto Schenk, der am 9. Jänner im Alter von 94 Jahren in seinem Haus am Irrsee gestorben ist, die Bühnen: Regisseur, Schauspieler, Theaterdirektor, Kabarettist. Eine Gestalt, die man kennt. Die man verehrt. An der man sich reibt.
Die Fakten im Leben des am 12. Juni 1930 in Wien Geborenen sind längst in den Nachrufen durchdekliniert und im Internet nachzulesen: Schwierige Jugend, da er aufgrund seiner teilweise jüdischen Abstammung den Nationalsozialisten als „Mischling“ galt; Ausbildung im Reinhardt-Seminar, Debüt am Wiener Volkstheater, gleichzeitig Auftritte im Kabarett Simpl. Wechsel ans Theater in der Josefstadt, führt Theater- und Opernregie, Direktoriumsmitglied der Salzburger Festspiele (1986 bis 1988), Direktor des Theaters in der Josefstadt (gemeinsam mit Robert Jungbluth, 1988 bis 1997); Bühnenabschied im März 2021, hält noch bis 2023 Lesungen.
Soweit ist alles unumstößlich. Schwieriger wird es, wenn es um Otto Schenks künstlerische Leistung geht. Denn das Feuilleton des deutschsprachigen Raums hat sich fast durchgehend auf die Seite des Regietheaters gestellt und Otto Schenks Regiestil zur veralteten Lächerlichkeit erklärt. Die Kritikerin Sigrid Löffler prägte dafür in Vernichtungsabsicht das Wort „menscheln“ – als wäre eine werkgetreue Regie auf der Basis einer psychologischen Durchdringung der Figuren von vorneherein falsch.
Dabei wird nur zu leichtfertig übersehen, dass Otto Schenks Regiearbeiten speziell im Bereich des Musiktheaters revolutionär waren. Denn er war einer der ersten, der Musiktheater vom Werk her verstand. Bis dahin war Oper und Operette ein Vehikel für Stars. Für die Regie genügte es, die Auf- und Abtritte der Sängerinnen und Sänger zu arrangieren, die zwar musikalisch ausgebildet, schauspielerisch jedoch Laiendarsteller waren.
Schenk jedoch, der selbst von der Sprechbühne kam und Film- und Fernseherfahrung mitbrachte, dachte nun Oper und Operette zum gesungenen Theater um. Während die Handlung bisher eine Nebensache war, die nur der Legitimierung der musikalischen Nummern diente, war es Schenk wichtig, die Psyche der Figuren und ihre Beziehungen untereinander auszuleuchten und auf diese Weise die Handlung glaubwürdig zu machen. Dafür nützte er alle Darstellungsmöglichkeiten von kleinen Gesten, Gesichtsausdrucken, Bewegungsabläufen bis hin zu Blickwechseln. Selbst der Chor war bei Schenk niemals eine uniforme Masse, sondern eine Ansammlung von Individuen.
Und Schenks Regiearbeiten waren frisch und frech. Als sich in einer Operetteninszenierung an der Volksoper der Chor zum Bühnenhintergrund verneigte und damit dem Publikum die Gesäße präsentierte, gab es lautstarke Unmutsäußerungen. Das war das Wiener Opern- und Operettenpublikum nicht gewohnt. Die bequeme Wohlanständigkeit des Musiktheaters war vorbei.
Dass man sich freilich gerade dank Schenks Inszenierungen dennoch blendend unterhalten konnte, setzte sich freilich bald durch. Als Paradebeispiel dafür mag Giacomo Puccinis «Gianni Schicchi» im Rahmen der Produktion des kompletten «Trittico» an der Wiener Staatsoper gelten: 1979 war von Übertiteln noch keine Rede; Schenk stand vor dem Problem, eine fremdsprachige Musikkomödie zu inszenieren, die auf Wortwitz basiert. Seine Inszenierung war so klug von sprechenden Details geprägt, dass man den Witz verstand, ohne die Worte zu brauchen. Das Publikum lachte schallend.
Der Durchbruch von Schenk als Musiktheaterregisseur war Alban Bergs Oper «Lulu» (1962 im Theater an der Wien unter Karl Böhms Leitung) gewesen, die er als Erotikthriller inszenierte. Danach setzten Schenks Regiearbeiten vor allem in Wien immer wieder Maßstäbe: Leoš Janáčeks «Jenufa» (1964), Georges Bizets «Carmen» (1966), Ludwig van Beethovens «Fidelio» (1970), Wolfgang Amadeus Mozarts «Così fan tutte» (1975), Friedrich Smetanas «Die verkaufte Braut» (1982) und Giacomo Puccinis «Manon Lescaut» (1986) seien als Beispiele genannt. 1968 gelang Schenk eine Modellinszenierung von Richard Strauss‘ «Der Rosenkavalier», die sich seither auf der Bühne der Staatsoper hält, weil sie auch dann funktioniert, wenn Abendspielleiter Rollendebütantinnen und -debütanten entsprechend der Originalregie einweisen. Ähnliches gilt für eine beispielhafte Inszenierung von Richard Wagners «Die Meistersinger von Nürnberg», die sich seit 1975 im Repertoire der Staatsoper gehalten hatte und erst 2022 nach 77 Aufführungen ohne Notwendigkeit von einer Neuinszenierung abgelöst wurde. Schenks psychologische Durchdringung von Gestalten befreite auch Werke wie Modest Mussorgskis «Boris Godunow» (1976) und Ernst Kreneks «Karl V.» (1984) von der Schwere der Haupt- und Staatsaktion, während er in Mozarts «Die Zauberflöte» (1988), Antonín Dvořáks «Rusalka» (1987) und Janáčeks «Das schlaue Füchslein» (2014) ganz auf eine verspielte Märchenhaftigkeit setzte, die das Feuilleton zur Weißglut und das Publikum zu Ovationen trieb.
Das präzise Erfassen sowohl von psychologischen Zusammenhängen wie auch vom besonderen Charakter eines Werks macht es verständlich, dass Komponisten für ihre Ur- und Erstaufführungen wiederholt um Otto Schenk baten: Schon in den 1960er Jahren hatte er Gian-Carlo Menottis Komödie «Die alte Jungfer und der Dieb» sowie sein Gruselstück «Das Medium» für das Fernsehen exemplarisch verfilmt. 1971 hielt er dann Gottfried von Einems «Der Besuch der alten Dame» in Schwebe zwischen Gesellschaftssatire und pervertierter Liebesgeschichte – die Oper hinterließ in dieser Version einen noch stärkeren, beklemmenderen Eindruck als Friedrich Dürrenmatts originales Sprechstück. Einems Friedrich-Schiller-Vertonung «Kabale und Liebe» (1976) inszenierte er als Psychothriller und Friedrich Cerhas «Baal» (1981) als expressionistisch flackerndes Künstlerdrama.
Doch Schenk war nicht allein an Österreich gebunden: Er arbeitete in München und Frankfurt ebenso wie in London und Mailand. Als sich in Europa zunehmend das Regietheater durchsetzte, das Schenks Grundeinstellung einer vom Werk und seinen Personen ausgehenden Regie diametral entgegenstand, inszenierte er an der New Yorker Metropolitan Opera Giuseppe Verdis «Rigoletto», Strauss‘«Elektra» und Gaetano Donizettis «Don Pasquale». Über seine Met-Inszenierungen von Wagners «Ring»- und «Parsifal» mokierte man sich in Europa, übersah dabei aber, dass Schenk mit leichter Hand und leisem Lächeln dem US-Publikum die deutsche Sagen- und Märchenwelt genießbar machte.
Auch wenn hier vor allem Schenks Leistungen im Bereich des Musiktheaters Würdigung erfahren sollen, dürfen weder seine wegweisenden Arbeiten für das Theater (etwa William Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ mit Christine Ostermayer und Klaus Maria Brandauer am Münchner Residenztheater, 1971, und sein „Was ihr wollt“ mit Josef Meinrad, Sabine Sinjen, Helmuth Lohner, Christiane Hörbiger und Christine Ostermayer bei den Salzburger Festspielen, 1973) übersehen werden: Schenk hatte zwar mit Bertolt Brechts „Epischem Theater“ nichts am Hut, aber übernahm von ihm die Idee, dass die Bühne hell sein muss, genug ausgeleuchtet, damit Mimik und Blickkontakte sichtbar sind.
Als Schauspieler bediente sich Schenk dieser scheinbaren Kleinigkeiten, um seine Rollen zu charakterisieren. Vor allem aber besaß er ein untrügliches Gespür für Timing in Sprache und Gestik, das er auch in seinen Regiearbeiten zu vermitteln suchte. Was wie improvisiert, aus dem Moment heraus gestaltet wirkte, war das Ergebnis akribischer Probenarbeit, wie Schenk es am Simpl gelernt hatte. Er war Perfektionist, eigener Aussage zufolge stets getrieben vom Drang, seine Arbeiten immer weiter auszufeilen. Die Zusammenarbeit mit ihm sowohl als Schauspieler wie als Regisseur mochte dadurch fordernd sein, überzeugte jedoch letzten Endes Mitwirkende wie Publikum gleichermaßen. Selbst, als er 2019 physisch bereits geschwächt, an der Josefstadt den Flir in Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ spielte, fesselte er mit seiner Diktion, seiner Ausstrahlung.
Ein langes Leben für das Theater ist zu Ende gegangen. Man kann diese Zeit getrost als die Epoche Otto Schenk feiern.