Opéra Royal de Wallonie-Liège
Schöner Sterben in Lüttich
An der Königlichen Oper der Wallonie spielt man erstmals nach 100 Jahren wieder Wagners «Tristan und Isolde»
Werner Kopfmüller • 31. Januar 2025
Wenn der Allmächtige uns zu sich ruft, dann, so sagen manche, erleben wir das eigene Erdenleben wie in einem Film am inneren Auge vorbeiziehen. Unser gesamtes Dasein erscheint uns noch als Bilderfolge, komprimiert im Zeitraffer. Nahtod-Erfahrung, nennt so etwas die Neurowissenschaften. Ein Phänomen, das nicht nur die moderne Medizin beschäftigt, sondern weit vorher künstlerisch zur Darstellung gelangte: So lässt Wagner im «Tristan» seinen Titelhelden eine solche Grenzerfahrung durchleben, wenn er, im Sterben begriffen, die Vorzüge „im weiten Reich der Weltennacht“ besingt. „Krachend hört' ich hinter mir schon des Todes Tor sich schließen“, heißt es im dritten Aufzug, „weit nun steht es wieder offen.“ Was, wenn sich dort, an der Schwelle des Todes, das gesamte Liebesdrama noch einmal vor seinen Augen abgespielt hat?
An der Opéra Royal de Wallonie in Liège hat Jean-Claude Berutti aus diesem zündenden Gedanken sein gesamtes Regie-Konzept entwickelt. Es ist dies das überhaupt erste Mal seit fast hundert Jahren, dass «Tristan und Isolde» auf dem Spielplan steht. Denn im Gegensatz zu den beiden anderen großen Opernhäusern des Landes, La Monnaie in Brüssel und die Flämische Oper mit seinen Spielstätten in Gent und Antwerpen, verfügt man in der französischsprachigen Wallonie über keine nennenswerte Wagner-Tradition. Da kann es nicht schaden, wenn die Regie die tragische Geschichte vom kornwallschen Brautwerber und der irischen Königstochter weitestgehend stringent auserzählt, anstatt es aufs Umdeuten oder gar Dekonstruieren anzulegen.
Das zur Maßgabe genommen, überzeugt auch der Einfall, dass dem singenden Tristan von Michael Weinius ein dauerpräsentes, schauspielerndes Double zur Seite gestellt wird. Thierry Hellin ist dieser stumme Mime, wie das Original in einen beigen Sommeranzug mit Hut gekleidet, was nicht zufällig an den moribunden Aschenbach in Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ denken lässt. Im antiquierten Rollstuhl ist er zu Beginn zu sehen, augenscheinlich vom Fieberwahn gequält, sodass eine ganze Ärztebelegschaft zur Hilfe eilen muss. Und im Rollstuhl wird er zuletzt einsam dahinscheiden, wenn Isolde zu ihrem großen Schlussgesang anhebt.
Dazwischen ist dieser Doppelgänger aber nicht nur der im Todeskampf vor sich Hinsiechende, der das ganze Beziehungsdrama noch einmal in seiner Erinnerung durchlebt, sondern er greift auch aktiv ein in die Handlung. Im großen Liebesduett des zweiten Aufzugs tauscht er zeitweilig seinen Platz mit dem singenden Tristan. Das belebt immerhin das ansonsten zum Statischen neigende Bühnengeschehen, da die beiden Protagonisten wie so oft bei Wagners „Handlung“ zum Rampensingen tendieren.
Auch das Bühnenbild von Rudy Sabounghi begnügt sich mit wenigen Requisiten für die jeweilige Szenerie: Reisekoffer und ein herabhängendes Segel verweisen auf das Schiff im ersten Aufzug, alle weiteren optischen Zutaten werden über die breitformatigen, hübsch anzusehenden Hintergrundvideos von Julien Soulier imaginiert: Ein Meereshorizont im Abendsonnenschein, eine nächtliche Parklandschaft mit Zypressenhain im zweiten Akt, und ganz zu Beginn wie im dritten Aufzug das Interieur einer Heilanstalt. Dass Isolde und Co. sich nun auch unters Personal der Heilanstalt gemischt haben, als weiße Kittelträger, ist auf den ersten Blick ziemlich verwirrend, weil ihre Kostüme (Jeanny Kratochwil) sie zuvor noch eindeutig ins 19. Jahrhundert verorteten. Das finale Gefecht mit König Markes Gefolgschaft ereignet sich konsequenterweise nur noch in der Vorstellung des sterbenden Tristan, Isolde singt ihren Liebestod als adrett gekleidete Krankenschwester.
Schauspielerisch ist das Ensemble in diesem «Tristan» also nicht übermäßig gefordert, sängerisch freilich wie eh und je. Insbesondere Lianna Haroutounian hat bei ihrem Isolde-Debüt anfangs mit der Nervosität zu kämpfen und entsprechend Mühe, ihr Vibrato zu kontrollieren und die Phrasen sauber auszusingen. Doch die in Armenien geborene Sopranistin, eigentlich im italienischen Fach beheimatet, steigert sich zusehends, schwingt sich in den Spitzentönen auf zu herber Kraft und betört mit einem verführerischen piano in der „Nacht der Liebe“.
Michael Weinius in der Titelrolle gilt hingegen ein Routinier seines Fachs. Ein Heldentenor mit viel metallischem Glanz in der Stimme, der die konditionellen Zumutungen, die Wagner an seine Rolle stellte, scheinbar anstrengungslos meistert. Herausragend ist ihm zur Seite sein treuer Gefährte Kurwenal, von Birger Radde mit überwältigend-unerschütterlicher Präsenz verkörpert – sowohl stimmlich wie darstellerisch.
Gleich in vier Sprachen wird in Lüttich übertitelt, aber der Blick auf die Bildschirme erübrigt sich an diesem Abend weitestgehend dank vorbildlicher Textverständlichkeit der gesamten Sängerriege: Evgeny Stavinsky verleiht seinem König Marke melancholische Würde, in den kleinen Rollen lassen Alexander Marev als Melot und Bernard Aty Monga Ngoy als Steuermann aufhorchen, Zwakele Tshabalala ist ein überzeugender junger Seemann und Hirte. Nur der Brangäne von Violeta Urmana hört man stellenweise an, dass sie ihre Rolle kräftemäßig überfordert.
Dabei trägt Giampaolo Bisanti am Pult des Orchesters der Opéra Royal de Wallonie-Liège nicht unbedingt dazu bei, dass die Sängerinnen und Sänger im Schongang durch die dreieinviertel Stunden Spieldauer kommen. Der Italiener legt sein Dirigat vom kernigen Forte aus an, mit einem Klangbild, das mehr auf eruptive Überwältigung setzt als in Piano-Gefilden nach suggestiven Farbmischungen zu forschen. Man mag das bekritteln, muss gleichzeitig aber die Präzision loben, mit der Bisanti Szene und Graben zusammenhält.
Allein das dürfte schon für viele traditionell gesinnte Wagnerianer, die ihren «Tristan» in einer weitgehend „naturbelassenen“ Inszenierung erleben wollen, die Reise nach Liège wert sein. Beim altersmäßig erstaunlich durchmischten Publikum fällt auf, dass es etlichen noch am für Wagner-Opern erforderlichen Sitzfleisch mangelt. Der eine und die andere tritt den Nachhauseweg an, noch bevor Isolde sich in den Liebestod singt. Alles Gewöhnungssache, möchte man sagen. Gut, dass die Opéra Royal de Wallonie nach fast 100 Jahren wieder einen «Tristan» hat.
«Tristan und Isolde» – Richard Wagner
Opéra Royal de Wallonie-Liège
Kritik der Premiere am 28. Januar
Termine: 2./5./8. Februar