Staatsoper Stuttgart

Wie gewonnen, so zerronnen

Schrill, exzentrisch und dennoch werkimmanent und durchdacht ist Prokofjews «Der Spieler» in Axel Ranischs Neuinszenierung. Die musikalische Wiedergabe könnte kaum besser sein

Oliver Class • 04. Februar 2025

Der Geldregen, der am Ende auf Alexej (Daniel Brenna) niedergeht, bringt ihm kein Liebesglück © Martin Sigmund

Rot gewinnt! Das jedenfalls glaubt Alexej, die Titelfigur in Sergej Prokofjews Oper «Der Spieler», als er am Roulettetisch ein Vermögen erspielt. Das geschieht ganz am Ende der Handlung, in der es über zwei Stunden lang nur um das eine geht: Wer knackt den Jackpot und löst damit alle Probleme? Alexej täuscht sich jedoch, denn der Geldregen, der nun endlich auf ihn niedergeht, bringt ihm mitnichten das erhoffte Lebensglück, sondern führt ihn auf direktem Wege in seine persönliche Katastrophe: Die angebetete Polina wendet sich brüsk und endgültig von ihm ab, er ist, inmitten eines Berges von Geld eine arme, gebrochene Jammergestalt – sein Spiel ist aus, nichts geht mehr.

Wir haben es ja schon immer gewusst: Geld allein macht nicht glücklich, nein, Geld verdirbt Moral und Charakter und tötet die Liebe. Davon handelt Prokofjews auf der gleichnamigen Romanvorlage Fjodor Dostojewskis entstandene Oper, die die Verheißung des Geldes als den Königsweg zum Glück als einen ebenso tragischen wie grotesken Irrweg entlarvt. 

Dostojewskis Roman spiegelt die vom Autor selbst schmerzvoll erlebte Spielsucht und seine vergebliche Liebe zu Polina Suslowa wider. Spielwahn und Liebespein sind dann auch die Hauptthemen dieser Oper, die Prokofjew im Revolutionsjahr 1917 vollendet hat. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass sie von Prokofjew in einer Epoche radikaler gesellschaftlicher Veränderungen als eine grelle Abrechnung mit dem spätzaristischen Russland gestaltet wurde, einer Gesellschaftsordnung, die gerade im Begriff war, unterzugehen. 

Schon in Dostojewskis Roman werden die in deutschen Kurorten ihr Geld verjubelnden Russen als ein dekadenter Haufen parasitärer Nichtstuer geschildert. Adlige Kurgäste aus Deutschland und Frankreich kommen kaum besser weg, es sind allesamt arrogante und bösartige Vertreter einer korrupten Oberklasse, die nichts Besseres wissen, als ihr Vermögen, das andere für sie erarbeiteten, sinnlos zu verprassen. Prokofjew verschärfte die literarische Personenzeichnung der Vorlage mit musikalischen Mitteln, indem er das Gequatsche dieser Bling-Bling-Gesellschaft durch ostinate Gesangslinien, die grelle Instrumentierung des Orchesters und einen drängend-nervösen Melodienfluss virtuos karikierte. 

Polina (Aušrinė Stundytė) kocht Alexej (Daniel Brenna) auf kleiner Flamme © Martin Sigmund

Aus dieser Ansammlung unsympathischer Society-Wichtigtuer fallen allein drei Figuren heraus: die beiden Hauptpartien des sich selbst im Wege stehenden Liebespaares Polina und Alexej sowie die Figur des Engländers Mr. Astley (ein nobler Bariton: Shigeo Ishino), der als eine zurückhaltende Nebenfigur der einzige Sympathieträger der Oper ist. Alexej hingegen ist ein Liebhaber, der unter seiner hingebungsvollen Liebe zu Polina heftig leidet. Diese weist ihn stets ab, ohne ihm alle Hoffnung zu rauben, kocht den unglücklich Schmachtenden auf kleiner Liebes-Flamme und ist dabei selbst unglücklich. Eine echte Mesalliance, eine ungute Amour Fou, deren musikalisch berückend gestalteten Duette mehr Liebespein als Liebesglück ausdrücken. Die beiden sind eindeutig nicht füreinander geschaffen, erkennen dies aber nicht und werden daran zerbrechen. Alexej erliegt dem fatalen Irrtum, durch den Hauptgewinn beim Roulette Polina für sich gewinnen zu können, so wie die ganze Gesellschaft in Roulettenburg, dem fiktiven Ort des Geschehens, glaubt, mit „dem Gewinn“ alle Imponderabilien des Lebens auf einen Schlag beseitigen zu können.

Die Stuttgarter Inszenierung transformiert die Oper, die eine Karikatur der russischen und europäischen Oberschicht am Vorabend der Zeitenwende des Jahres 1917 ist, in unsere Gegenwart, gleichzeitig jedoch auch in eine unbestimmte Zukunft: Die oberen Zehntausend haben sich auf einen unwirtlichen Planeten geflüchtet, nachdem die Erde offenbar unbewohnbar wurde. Schon durch diese Idee beweist die Inszenierung Axel Ranischs, dass sie die Oper in sinnfällige Zusammenhänge zu bringen versteht. Die Flucht unserer Zivilisation in den Orbit war zur Zeit Prokofjews eine geläufige Utopie der russischen Kosmisten und ist bekanntlich auch gegenwärtig der Traum amerikanischer Kapitalisten. Die Landschaft, in der das Geschehen abläuft, ist ein unschönes Terrain wüstenhafter Nichtigkeit, ein Unort. Saskia Wunsch ist das Kunststück gelungen, das Bühnenbild zwar öde, aber keineswegs langweilig zu gestalten. Die Gesellschaft der Spieler ist ganz offenbar stark gerupft, ihre Kostüme sind mehr Fetzen als Kleider, der General, der von Goran Jurić als eine wundervolle Karikatur eines beschränkten Militaristen gezeichnet und mit einem kraftvollen, wohltönenden Bass gesungen wird, trägt zur Uniformjacke – keine Hosen. Stine Marie Fischer, die vom General angeschmachtete Halbweltdame Blanche, reicht es gerade noch zu blauen Riesenschleifen, die ihre Körperformen halbwegs verhüllen. Der intrigante Marquis, den Elmar Gilbertsson mit alerter Stimme und großer Spielfreude gestaltet, ist das Zerrbild eines unangenehmen, effeminierten Franzosen in knappen Höschen, mit einer überdimensionierten Strassbrosche an der Brust und herzförmiger Handtasche unterm Arm.   

Schräge Upperclass-Party in kosmischer Ödnis: Stine Marie Fischer und Elmar Gilbertsson warten als Mlle. Blanche bzw. Marquis auf das große Geld. Der Diener im Hintergrund wird sie später verspeisen © Martin Sigmund

Die Kostüme von Claudia Irro und Bettina Werner verbinden schrille Fantastik mit Sinnhaftigkeit für das Gesamtkonzept der Inszenierung. So wie Dostojewskis Russen aus Baden-Baden nicht abreisen konnten, weil sie ihre Hotelrechnungen nicht zu zahlen vermochten, entkommen die im All Gestrandeten der kosmischen Ödnis auch nicht: Wann kommt die nächste Rakete, fragen sich alle, und bringt endlich die lang ersehnte Nachricht vom Tod der alten Babulenka, deren Erbe alle Sorgen der verarmten Exilrussen im Äther verschwinden lassen würde. Babulenka ist jedoch nicht so nett und stirbt, sondern erscheint höchst persönlich und frisch-fröhlich am Handlungsort (ein großer Auftritt für Véronique Gens, stimmlich und als Erscheinung berückend) und, schlimmer noch, verspielt ihr Vermögen und reist unverzüglich wieder per Rakete ab.

Zurück bleibt die nun zernichtete Spielergesellschaft, und nun wagt Alexej das Vabanque-Spiel, setzt alles auf Rot, gewinnt im Spiel und verliert seine Liebe. Der Höhepunkt des Geschehens ist diese große Spielszene des vierten Aktes, in der sich Alexej in einem wahnhaften Spielrausch verliert und in dem die Spieler des Kasinos ihm wie Desperados des Glückspiels – alle sind in schwarzen Wildwest-Outfits gekleidet – sekundieren, als er die Bank sprengt. 

Auch in dieser musikalisch höchst anspruchsvollen Szene hält der zukünftige Generalmusikdirektor der Stuttgarter Oper, Nicholas Carter, alle Fäden der Musik und des Ensembles souverän zusammen. Carter gestaltet die diffizile und facettenreiche Partitur Prokofjews über den ganzen Abend hinweg mit transparenter Differenziertheit, lyrischer Delikatesse und wenn nötig, durchschlagender Brutalität. Der Klang des Staatsorchesters könnte nicht besser sein, der Staatsopernchor (Leitung: Manuel Pujol) ist nicht nur ein valider Protagonist im Spiel um Liebe und Geld, sondern ein Klangkörper, der begeistert: singen die Damen und Herren an der Rampe gegen das Publikum, glaubt man gar, von einer elementaren Klangwelle hinweggehoben zu werden.

Véronique Gens (Mitte) hat einen großen Auftritt als Babulenka © Martin Sigmund

Alle Sänger der Stuttgarter Premiere gaben ihr Rollendebut, alle konnten stimmlich und darstellerisch voll überzeugen. Übertroffen wurde die Leistung des Ensembles nur noch von Daniel Brenna, der den unglücklichen Alexej gab, und Aušrinė Stundytė, die Polina war. Die litauische Sopranistin spielte das russische It-Girl, das nicht so recht weiß, was es will, aber genau zu wissen glaubt, was es nicht will, mit geradezu fotorealistischer Präzision. Und sie bewältigte die anspruchsvolle Partie mit ihrer großen, klangschönen, jedoch zu gewaltigen Ausbrüchen fähigen Sopranstimme, mit der sie das Psychogramm einer labilen Liebenden und gewaltig hassenden Frau zu zeichnen vermochte.

Überragend dann Daniel Brenna in der Titelrolle: sein Alexej ist ein leidender Liebender, der sein Heil im Gold sucht, statt seinem Herzen und der Liebe zu folgen. Er ist wie Hermann in Tschaikowskys «Pique Dame» ein dem Spiel verfallener, ein von den Mächtigen getretener wie Wozzeck, eine sich selbst bemitleidende Heulsuse wie die Helden Puccinis. Brenna legt in diese einzelne Rolle des Alexej das kondensierte (Opern-)Bild des musikalischen Antihelden der Spätromantik und der frühen Moderne. In seiner Riesenpartie ist Brenna fast die ganze Handlung über auf der Bühne, in jeder Sekunde ist er voll präsent, sein Leiden an Polina und der Welt wird unser Leiden, sein Schmerz ist für uns erfahrbar, sein Scheitern hoffen wir nicht auch ertragen zu müssen. Brennas Tenor ist strahlkräftig und stark, wunderbar in der Artikulation, samtweich in den wenigen lyrischen Passagen, er beherrscht das flotte Parlando ebenso wie die hochdramatische Entäußerung von Not und Pein.

Dem glückhaften musikalischen Erlebnis entspricht die gelungene Inszenierung von Axel Ranisch. Seine Interpretation dieser „Revolutionsoper“ ist schrill und exzentrisch und trotzdem werkimmanent und durchdacht. Sieht man von den etwas albernen, monströsen Bärtierchen ab, die als Domestiken die Herren und Damen der besseren Gesellschaft bedienen, um sie dann später zu verspeisen (was als ein dann doch auch amüsanter Hinweis auf die Rache der Entrechteten verstanden werden kann), hat Ranisch eine flotte, gekonnte und stimmige Regiearbeit abgeliefert. Rot – der Regisseur trägt offenbar gerne Hosenträger in dieser Farbe – gewinnt!

 

«Der Spieler» – Sergej Prokofjew
Staatsoper Stuttgart · Opernhaus

Kritik der Premiere am 2. Februar
Termine: 5./20./23. Februar; 10./15./19./30. März