Deutsches Nationaltheater Weimar
Nie wieder ist jetzt!
Im Rahmen der Themenwoche zur Befreiung des KZ Buchenwald inszenierte das Duo Wieler-Morabito «Die Passagierin» von Mieczysław Weinberg in einer deutschen Übersetzung
Werner Kopfmüller • 08. April 2025

Wer sich vom Hauptbahnhof Weimar zu Fuß Richtung Innenstadt begibt, kommt unweigerlich an ihnen vorbei: Großformatige Schwarzweißfotos, aufgestellt auf dem Bahnhofsvorplatz: Sie zeigen die Gesichter von Überlebenden des einstigen KZ Buchenwalds. Blicke alter Menschen, in Nahaufnahme eingefangen, die sich auf die ankommenden Besucherinnen und Besucher richten. Weimar, die Stadt von Goethe und Schiller, geht offensiv mit dem dunkelsten Kapitel seiner Geschichte um. Das Erinnern an die Barbarei der Nazi-Zeit weist über das bloße Andenken hinaus, wird zum Appell an die Verantwortung der Nachgeborenen: ich„Nie wieder ist jetzt!“
Insofern ist es nur folgerichtig, dass das Deutsche Nationaltheater Weimar eine ganze Themenwoche veranstaltet hat, zum Ende des Zweiten Weltkriegs und im Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, das einst vor den Toren der Stadt errichtet worden war und zu den größten seiner Art auf deutschem Boden zählte.
„Schau mich an“ lautete das Motto für das Programm für eine Woche bis zum 6. April. Neben Theaterabenden, szenischen Lesungen und einem Tanztheaterprojekt feierte Mieczysław Weinbergs «Die Passagierin» Premiere – eine Oper, die sich für den Kontext des Gedenkanlasses nicht besser eignen könnte. Überhaupt hat das Werk auf so bemerkenswerte Weise Karriere gemacht wie kein anderes Stück Musiktheater des 20. Jahrhunderts.
Die Oper gilt nämlich als die erste überhaupt in der Musikgeschichte, die sich in ungeschönter Drastik mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Terror der Konzentrationslager auseinandersetzt. Und obwohl der 1919 in Polen geborene und 1939 vor den Nationalsozialisten nach Russland geflohene Weinberg sein Hauptwerk bereits 1968 vollendet hatte, wurde es aufgrund von sowjetischer Zensur erst zehn Jahre nach dem Tod des Komponisten im Jahr 2006 konzertant in Moskau uraufgeführt. Weinberg ging mit seiner «Passagierin» das Wagnis ein, entgegen dem Diktum Adornos das eigentlich Unerzählbare, Unvertonbare – die Hölle von Auschwitz – doch auszukomponieren.
Nach der szenischen Uraufführung in Bregenz im Jahr 2010 machten und machen sich immer mehr Opernhäuser, kleine wie große, daran, das in jeder Hinsicht herausfordernde Stück auf den Spielplan zu setzen. Die Rezeptionsgeschichte ist zwar noch jung, aber bereits reich an Lesarten. Und doch ähneln sie sich allesamt in dem Punkt, dass sie auf einer „multilingualen Fassung“ des Librettos von Alexander Medwedjew beruhen, der dafür wiederum auf den gleichnamigen autobiographischen Roman – im Original: „Pasazerka“ – der polnischen Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz zurückgriff.

So bemängelt das Weimarer Regie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito zurecht einige Logik-Fehler, die sich im Handlungsverlauf ergeben, wenn die individualisierten Häftlingsgestalten in ihrer jeweiligen Nationalsprache – Polnisch, Tschechisch, Französisch – singen und miteinander kommunizieren. In Weimar geht man daher einen anderen Weg und hat sich für eine Neuübersetzung ins Deutsche entschieden – mit dem Ziel, den sprachmelodischen Duktus des russischen Originals im Deutschen bestmöglich nachzugestalten.
Das tut der Intensität der Inszenierung keinen Abbruch, zumal das Bühnenbild von Anna Viebrock auf kongeniale Weise Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschränkt. So reist in der ersten Zeitebene der Oper die ehemalige deutsche KZ-Aufseherin Lisa fünfzehn Jahre nach Kriegsende mit ihrem Diplomatengatten nach Brasilien. Ihre Vergangenheit als Wärterin in Auschwitz hat sie lange hinter sich gelassen, ihre Taten verdrängt und in selbstmitleidiger Manier vor sich gerechtfertigt: „Das war unsre Pflicht, es war ein Befehl, ich glaubte an den Führer.“ Erst als sie auf ihrem Ozeandampfer eine Passagierin zu erkennen glaubt, die der von ihr misshandelten und verratenen KZ-Insassin Marta zum Verwechseln ähnlich sieht, bricht die Fassade. Lisa muss nicht nur ihrem Mann ihre grausame Vergangenheit beichten, sondern sich auch an die Geschehnisse im Lager erinnern.
Viebrocks Bühne und Kostüme zeigen das Geschehen als traumartig verfremdetes Gerichtsverfahren, an dem auch die ermordeten Opfer teilnehmen. Dafür hat sie sich optisch am Gerichtssaal des Bürgerhauses Gallus orientiert, in dem von 1963-1965 die Frankfurter Auschwitzprozesse stattfanden, und diesen für die Weimarer Produktion adaptiert, ihn als tür- und fensterlosen Schacht nachgebaut, mit schwarzem Ölanstrich an den Wänden und einer Bühne mit Vorhangdraperie hinter der Richterbank. Sogar die Tische sind hier so angeordnet, wie die Frankfurter Prozessteilnehmer gemäß Sitzordnung platziert waren. Dass ein Ozeandampfer in dieser Konstruktion mitgemeint ist, zeigt die Reling hoch oben. Schiffsdeck und Appellplatz, Baracke und Konzerthalle, Verhandlungs- und Tanzsaal.
Anna Viebrocks Bühne ist alles zugleich, ohne eine explizite KZ-Bebilderung zu bemühen: eine surreal ausgeleuchtete Szenerie (Licht: Andreas Heptner), durch die die Figuren wanken, schwanken, torkeln und traumwandeln, als wären sie gleichzeitig überall und fänden nirgendwo Halt. Angefangen bei Lisas Diplomatengatten Walter, den Taejun Sun als aalglatten, hochneurotischen Karrieristen mimt, der es sich hinter seiner tenoralen Saubermann-Fassade in feister Wirtschaftswunder-Behaglichkeit eingerichtet hat. Lisa selbst, verkörpert von Sarah Mehnert, ist eine kühle Blondine mit betonierter Duttfrisur, aus deren irrem Blick die Mordlust der ehemaligen KZ-Aufseherin spricht. Es schaudert einen bei den abgründigen Tiefen, in die ihr Mezzosopran vordringt, es fröstelt einen bei der morbiden Erotik, die sie verströmt.

Demgegenüber verleiht Emma Moore der einst gedemütigten KZ-Insassin Marta eine anrührende Fragilität. Verkapselt in der eigenen Traurigkeit, gelangt ihr nüchtern vorgetragener Schlussappell („Nie und nimmer vergessen!“) zu umso eindringlicherer Wirkung. Ihr zur Seite gestellt ist Tadeusz, ihr Verlobter, von Ilya Silchuk mit weichem, verletzlichem Bariton gesungen, der dem nihilistischen Terror der Nazi-Schergen den klingenden Humanismus von Bachs d-Moll-Chaconne entgegensetzt. Collageartig ist Weinbergs Partitur ohnehin gearbeitet – und steht in der Klangsprache seinem Lehrer Schostakowitsch erstaunlich nahe. Anleihen an melancholische Jazz-Walzer vermengen sich mit grotesken Bläser-Fanfaren, durchbrochen vom entfesselten Schlagwerk. Die Staatskapelle Weimar unter der Leitung von Roland Kluttig überrascht bei aller unerbittlichen Präzision mit einer Klangsinnlichkeit, die auch dem zerbrechlichen Melos dieser Musik ihren Raum lässt.
80 Jahre liegt der Holocaust zurück. Die Weimarer Inszenierung zeigt uns, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen, sondern präsenter Bestandteil der Gegenwart ist, ja bleiben muss – wenn wir es wirklich ernst meinen in unserem Appell „Nie wieder ist jetzt!“.
«Die Passagierin» – Mieczysław Weinberg
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Kritik der Premiere am 5. April
Termine: 11./25. April; 10./23. Mai; 9. Juni