Pamy Mediaproductions / Goetheanum
Anthroposophische Gala
Eurythmie ist mehr als „Namentanzen“ und eine echte Bereicherung auf der Opernbühne: Im Goetheanum bei Basel zeigte man im dritten Jahr in Folge Wagners «Parsifal»
Willi Patzelt • 21. April 2025

Es riecht nach Gesundheit und achtsamen Leben, ja fast wie in einem Biomarkt, wenn man das Goetheanum im unweit von Basel gelegenen schweizerischen Dornach betritt. Das überrascht nicht: Es war schließlich der 1925 verstorbene, aber immer noch in vielerlei Hinsicht weithin präsente Universal-Dilettant Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie und Bauherr des Goetheanums, der die biodynamische Landwirtschaft entwickelte und heute somit beispielsweise auch als Vater des Anbauverbands „Demeter“ in gentrifizierten Stadtvierteln des deutschsprachigen Raumes weithin die Auslage in Supermärkten prägt.
Rudolf Steiners riesiges Erbe ist freilich mehr als das, und man spürt es in Dornach überall. Obwohl der vielerorts übliche Karfreitags-«Parsifal», mit dem man hier bereits in den letzten zwei Jahren für Aufsehen sorgte, am Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft als „Gala-Veranstaltung“ angekündigt wird, ist es nicht das klassische Bild von „Gala“, das sich hier zeigt: Keine Champagner-Gläser, kaum Krawatten und allgemein wenig oberflächliches Getue. Denn den Anhängern von Rudolf Steiner geht es im „Rom der Anthroposophen“ um mehr.
Sie sehen Kunst als Brücke zwischen Geist und Materie, oder anthroposophisch ausgedrückt: zwischen Luziferischem und Ahrimanischem. Für sie ist Kunst nicht nur Dekoration, sondern ein Weg zur Selbsterkenntnis und spirituellen Entwicklung. In dieser ganzheitlichen Betrachtung von Kunst trifft sich Rudolf Steiner mit Richard Wagner. Und tatsächlich fühlt man sich am Goetheanum in Dornach – der Bau liegt auf einem Hügel am Ortsrand – hin und wieder ein wenig an den Bayreuther grünen Hügel erinnert. Statt hohen Schuhen sieht man freilich Wanderschuhe und Birkenstocks, statt Smokings Funktionsjacken und Selbstgestricktes. „Gala“ meint in Dornach nicht ein extensives, sondern ein – im wörtlichen Sinne verstanden – nur intensiv festliches Highlight.

Intensität entsteht durch Bündelung verschiedenster Durchlichtungsvehikel, die zur Wahrheit hinter der Oberfläche führen, was die Grundlage von Wagners Idee des Gesamtkunstwerks ist. Es dürfte dieser mystische Gedanke hinter der Kunst gewesen sein, den auch weiland Rudolf Steiner umtrieb, sodass es ihn zweimal nach Bayreuth zu «Parsifal»-Aufführungen zog. In Wagners Werk sah er eine „ungeheure Summe von okkulter Kraft". Jene von ihm entwickelte Eurythmie – nicht nur Waldorf-Schülern als spirituelle Bewegungskunst bekannt, und doch nicht selten als „Namentanzen“ durchaus gehässig unterschätzt – bringt hier einen Beitrag zum Gesamtkunstwerk: Schon während des Vorspiels zum ersten Aufzug sieht man eurythmische Schleiertänze von einnehmender Schönheit und anmutiger Intensität, die den Zugang zum Intensiven (erneut wörtlich zu verstehen) erleichtern.
Und es zeigt sich auch den weiteren Abend über: Jene aus der Musik abgeleiteten Bewegungen vermögen es, gleichsam die Handlung auszudeuten und Handlungselemente darzustellen. Der Gral wird durch sieben in Seidenschleier gehüllte Damen dargestellt, die sich hell beleuchtet und anmutig bei der Gralsenthüllung, gleich einer Blume, mit ihren Armen nach oben hin öffnen. Ein an Anmut und Schönheit schwer zu überbietendes Bild! Und dennoch hat die Eurythmie einen deutlich, freilich nicht zwangsläufigen Nachteil: Sie lädt manchen Darsteller zu sehr zu schauspielerischen Vernachlässigungen ein. Es ermangelt einer an und für sich gelungenen Personenregie an diesem Abend nicht zu selten an schauspielerischer Kreativität.
Es ist insbesondere Andreas Hörl als Gurnemanz, der den ganzen Abend über durch allzu große Passivität heraussticht. Sicherlich ist der weise Einsiedler ohnehin nicht der exzentrischste aller Beteiligten. Etwas mehr schauspielerische Präsenz wäre dennoch, freilich nicht nur bei ihm, wünschenswert gewesen. Wenn auch meistens nur herumstehend, entlohnt Hörls prächtiger Bass doch sehr, obschon er an diesem Tag – die Dornacher Pollen seien hier, wie vor Vorstellungsbeginn bereits angekündigt, getadelt – wohl sehr gezwungen werden will. Daraus resultierende Intonationsprobleme sollten hier nicht über das Wesentliche hinwegtäuschen: Andreas Hörl ist ein stimmlich wirklich ansprechender Gurnemanz. Ebenfalls ein Prachtbass ist Thomas Jesatko, der einen packenden Klingsor gibt.
Es ist jene Kernigkeit, die man sich bei Alejandro Marco-Buhrmester als Gralskönig Amfortas und Christopher Jähnig als dessen Vater und Vorgänger Titurel womöglich noch mehr gewünscht hätte. Beide bleiben eher blass, obschon man letzteren – streng nach Textbuch meldet dieser sich ja nur noch aus dem Grab – in dieser Produktion sogar einmal zu Gesicht bekommt: Irgendwie an eine Melchisedek-Darstellung erinnernd, ist er im ersten Aufzug noch erstaunlich lebendig und mischt heiter im ansonsten etwas statischen Bühnengeschehen mit. Eine Deutung dahinter erschließt sich wenig. Auch verliert die Versammlung der Gralsritter im Lauf des Abends deutlich an Mystik. Und irgendwie passt es dann auch zum Gesang: Direkt und regelrecht zu weltlich wirken die beiden gescheiterten Gralskönige.
Der Gralskönig der Zukunft ist der „durch Mitleid wissende, reine Tor“. Und der Parsifal der Stunde ist Klaus Florian Vogt. In Wagners am wenigsten umfangreicher Heldenpartie dominiert er sängerisch den Abend: Mit seinem hellen, mittlerweile nicht mehr ganz so vergeistigt-schwebendem, sondern im klassischen Sinne deutlich heldiger gewordenen Tenor setzt er Maßstäbe in dieser Partie. Ivonne Fuchs ist ihm zur Seite eine vorzügliche Kundry, deren klangschön-agiler, dadurch aber nicht minder dramatischer Sopran, jede Überdrehung vermeidend, mit Klaus Florian Vogt den zweiten Aufzug packend zum Höhepunkt des Abends werden lässt. Mit großartigen Blumenmädchen ist es eine aufwühlend-berauschende Reise hin zur Selbstfindung Parsifals, der hier gleichsam zum freien Menschen ganz im Steiner‘schen Sinne wird.

Ansonsten ist im Graben allerdings viel Flaute – nicht unbedingt im Tempo, sehr wohl aber im Ausdruck. Technisch ist der Philharmonie Baden-Baden unter Roland Fister kein Vorwurf zu machen. Mit diesem Klangkörper, Wagner’schen Mischklang offensichtlich vertraut, wäre freilich aus dieser Partitur noch mehr zu machen gewesen. Schon im Vorspiel zum ersten Aufzug, ja schon im einführenden Liebesmahl-Motiv (eine von Wagner eingepasste Marianisches Antiphon) fehlt nicht nur Bewegung, sondern auch große musikalische Architektur – um von (vielleicht sogar marianisch inspiriertem) Sog ganz zu schweigen. Aber gut, wir sind auch in der Schweiz, da darf manches reformierter zugehen. Aber dann folgt ein spannungsmäßig sehr langer erster Aufzug, dem der dritte dahingehend wenig nachsteht.
Es ist freilich auch kein wirklich schlechter «Parsifal». Es ist ein zu nüchterner, musikalisch zu unsinnlicher «Parsifal». Und das ist insbesondere in Dornach schade, denn gerade die Eurythmie ermöglicht eine gesteigerte Sinnlichkeit. Sie spielt sich freilich selbst aber auch in einem wenig sinnlichen Bühnenbild (Walter Schütze) ab. Was in der Architektur abseits der Bühne zuweilen als „ehrlicher Sichtbeton“ bezeichnet, ist hier gleichsam „ehrlicher Naturstein“. Die vermeintliche Stärke des Ausdrucks jener angeblichen Ehrlichkeit – als Gegenentwurf zum zu Kitschigen – hat im Parsifal, und auch anderswo, ohnehin selten überzeugt.
Der Regisseurin Jasmin Solfaghari gelingt es aber dennoch, das eine oder andere starke Bild zu kreieren, welches dann wirklich, beispielsweise in der „Herzeleide-Erzählung“, eine große, weiterführende inhaltliche Tiefe schafft. Man merkt der Inszenierung an, dass Solfaghari hier der Eurythmie wohl viel Raum geben wollte. Eine richtige Entscheidung, die in der praktischen Umsetzung allerdings zu dramaturgischen Schwächen führt. Es ist also schon eine gelungene Regiearbeit, in puncto Sinnlichkeit freilich gleichauf mit dem Dirigat.
Sowohl Rudolf Steiner als auch Richard Wagner war Intensität ein Anliegen. Und mit der Steiner‘schen Eurythmie gewinnt das „Bühnenweihfestspiel“ an Sog in den mystischen Logos des Werkes, hin zu jener „ungeheuren Summe von okkulter Kraft“. Und egal, ob man Steiners Esoterik und Okkultismus Glauben schenken mag: Seine Überlegungen regen die Fantasie an. Wird dann womöglich in Dornach mit anthroposophischem Wagner die Kunst-Utopie des großen, unerhörten Meisters doch zur Realität? Eher noch nicht, aber man ist auf einem guten Weg dorthin.
«Parsifal» – Richard Wagner
Pamy Mediaproductions · Goetheanum (Dornach)
Kritik der Aufführung am 18. April 2025
Termine: 20./22./29. März 2026