Musiktheater an der Wien
Der Held ist eine Frau
Das Ensemble La Lira di Orfeo von Raffaele Pe und grandiose Solisten machen Francesco Gasparinis Hamlet-Fragment «Ambleto» in einer deftigen Inszenierung von Ilaria Lanzino zum Erlebnis
Stephan Burianek • 08. Mai 2025

Bekommen die Musiker im Graben bei dieser Produktion eine Gefahrenzulage? Sie hätten sie verdient. Wenn Ana Maria Labin als Hamlets Mutter Gertrude in ihrer Wut über das Verhalten ihres gestörten Prinzlings im Obergeschoß von Martin Hickmanns Bühne den gedeckten Esstisch mit einem einzigen Armstreif abräumt, kommen schon mal Plastikweingläser in hohem Bogen geflogen und schmettern in Grabennähe auf den Bühnenboden. Generell geht es heftig zu in Ilaria Lanzinos Regie, die aus dem, was von Francesco Gasparinis Opera seria «Ambleto» noch vorhanden ist, eine Familientragödie unseres Jahrhunderts macht.
Zur Einordnung: Francesco Gasparini war ein Komponist, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts u.a. an den venezianischen Opernhäusern große Erfolge feierte, bevor er in seinen letzten beiden Lebensjahren als Kapellmeister in der Lateranbasilika in Rom wirkte. Er schrieb fast 60 Opern, die seinerzeit erfolgreichste ist ebenjener «Ambleto» (Hamlet). Weder er noch seine Librettisten Apostolo Zeno und Pietro Pariati dürften Shakespeares Meisterwerk gekannt haben. Stattdessen bedienten sie sich an der „Gesta danorum“ bzw. einer französischen Neufassung dieser dänischen Chronik durch den Schriftsteller Francois de Belleforest aus dem Jahr 1570, die auch Shakespeare als Quelle diente.
Von Gasparinis Oper liegen lediglich die Noten der Arien einer Londoner Fassung aus dem Jahr 1712 vor. Weil auch die Libretti sowohl der Uraufführungsfassung als auch jener Londoner Fassung vorliegen, wissen wir, dass in London mehrere Stücke aus anderen Opern hinzugefügt wurden, es sich also um ein Pasticcio handelte. Das macht eine Beurteilung des Originals schwierig, folglich bezieht sich diese Kritik auf jene Spielfassung, die der Kulturmanager und Countertenor Raffaele Pe gemeinsam mit dem von ihm gegründeten Barockensemble La Lira di Orfeo erstellt und im Theater an der Wien erstmals aufgeführt haben.
Raffaele Pe steht in der Titelpartie auf der Bühne und wird im Programmheft zugleich als Musikalischer Leiter ausgewiesen. Tatsächlich gibt während der Aufführung die Konzertmeisterin Elisa Citterio den Takt vor. Vor sieben Jahren machte Pe mit einem Musikalbum Furore, für das er mit seinem Ensemble Barockarien einspielte, die mit Julius Cäsar in Verbindung standen. Seither ist seine Stimme schwerer geworden, und so sehr man ihm seine Rolle als noch bei der Mutter wohnender Jugendlicher Hamlet optisch abnimmt, so reif klingt er in dieser Partie. Die virtuosen Koloraturen, die Gasparini ursprünglich dem legendären Kastraten Nicolini auf die Gurgel schrieb, meistert Pe intonationssicher, auch wenn sie nicht mehr mit Leichtigkeit kommen. Vor allem in der Höhe klingt Pe immer noch sauber und kraftvoll.

Anstatt die Rezitative musikalisch zu rekonstruieren, entschied man sich, Arie auf Arie folgen zu lassen (wobei die Auswahl und Reihenfolge der Arien dem dramaturgischen Konzept angepasst wurden). Hin und wieder werden dazwischen Zitate aus Shakespeares „Hamlet“ eingespielt, und auch die Figuren tragen nicht die ihnen von Gasparini zugedachten Namen, sondern jene, die wir aus Shakespeares Drama kennen. Regisseurin Lanzino rückt Gasparinis Werk damit näher an den englischen Klassiker und führt doch eine ganz entscheidende Neuerung ein: Bei ihr stirbt Vater Hamlet offenbar an einer Krankheit, auf einen möglichen Mord liefert sie keinen Hinweis.
Dieser Kniff macht den jungen Hamlet zum Anti-Helden. Nicht im Bestreben, den Mord an seinen Vater zu rächen, stellt er sich wahnsinnig, sondern er hat tatsächlich ein psychisches Problem. Lanzino zeichnet ihn als Jugendlichen an der Grenze zur Wohlstandsverwahrlosung, der mit dem Tod des Vaters emotional ebenso wenig umgehen kann wie mit der Tatsache, dass die Mutter bereits zwei Monate später seinen Onkel heiratet (wobei diesbezügliche Hintergründe im Dunkeln bleiben). Von seiner Umgebung mit Schulterzucken und Kopfschütteln bedacht, entwickelt sich Hamlet regelrecht zu einem Monster.
Lanzinos Regie brilliert durch eine durchdachte und penibel gearbeitete Personenführung und fasziniert und schockiert gleichermaßen mit deftigen Bildern: Es fließt gewaltig viel Blut, das bei mehreren Axtschlägen auch elektroakustisch spritzt, und gleichsam als Vision Hamlets wird ein Blowjob der Mutter Gertrude an den Onkel Claudius ebenso schonungslos gezeigt wie eine „reale“ Vergewaltigung Hamlets an Ophelia.
Überraschenderweise läuft die heftige Szene nie gegen die Musik, die hier im Gegenteil als Fenster zu den Seelenleben der Figuren einen spannenden, beinahe harmonischen Kontrast bildet. Die Wiener Spielfassung zeichnet sich durch eine abwechslungsreiche Bandbreite an Zartheit und Dramatik aus. Die reichen Koloraturen wirken selten wie ein artistisches Beiwerk, sondern unterstreichen, oftmals mit Solo-Instrumenten im Duett, die Emotionen. Von ausnehmender Schönheit ist beispielsweise Hamlets Arie gegen Ende des 2. Akts, wenn er den versehentlichen Totschlag an Ophelias Vater Polonius beweint („Diese Augen hatten einst das Leben bewundert“). Szenisch wie musikalisch geistreich ist auch jener Moment, in dem Hamlet als trauernde Witwe verkleidet und mit Totenkranz auf der Hochzeitsfeier auftaucht, während gerade der „Gott der Liebe“ besungen wird – und das Orchester diese Stelle wie einen Trauermarsch spielt.

Ein weiterer Vorzug dieser Produktion ist ihr ideales Casting: Erika Baikoff betört als Ophelia vor allem in den zärtlich entrückten Situationen mit einem warm strömenden Sopran. Aus ihrem Bruder Laertes macht Maayan Licht fast schon zu einer Hauptperson – so vital, so rein, so kraftvoll, so organisch singt und verkörpert er den Beschützer seiner Schwester, dass er nach seiner ersten Arie mit spontanem Applaus bedacht wird. Großartig füllt zudem Ana Maria Labin die Gertrude aus, bei ihr ist jeder Ton eine Emotion. Eine gute Präsenz hat auch der sonore Miklós Sebestyén als Claudius, Nikolay Borchev ist ein makelloser Polonius.
Lanzino macht Ophelia zur eigentlichen Heldin des Stücks: Sie ist die treue Partnerin, die in ihrem Geliebten noch das Gute sieht und ihm eine Stütze bietet, wenn ihr bereits alle von ihm abraten. Sie ist es aber auch, die mit ihm Schluss macht (und nicht umgekehrt), als sie sich ihr Scheitern eingestehen muss. Folglich wird ihr auch der berühmte „Sein oder Nichtsein“-Monolog zugeschrieben. Ophelia liegt bereits in einer blutüberströmten Badewanne, als sie sich gegen den Selbstmord entscheidet und zur Rächerin ihrer Familie wird: In einem vermeintlichen Liebesduett erdolcht sie den Mörder Hamlet. Die Wirkung ist eindeutig: heftiger Jubel, sogar für das Regieteam.
«Ambleto» (Hamlet) – Francesco Gasparini
Musiktheater an der Wien · Theater an der Wien
Kritik der Premiere am 6. Mai
Termine: 8./10./12./14./17. Mai