Palazzetto Bru Zane
Aus der bretonischen Sagenwelt
Mit dessen Oper «Le Roi d’Ys» feierte man 2023 den 200. Geburtstag des französischen Komponisten Édouard Lalo. Nun ist ein Audio-Mitschnitt einer Budapester Aufführung erschienen
Albert Gier • 23. Mai 2025
Im deutschen Sprachraum zählt Édouard Lalo (1823-1892) zu den weniger bekannten französischen Komponisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Frankreich ist das anders, seine Kammermusik und seine Werke für Orchester werden immer noch häufig aufgeführt. Das „Zentrum für romantische französische Musik“ Palazzetto Bru Zane, das sich der Erschließung und Verbreitung der Musik des „langen“ 19. Jahrhunderts (1780-1920) widmet, organisierte 2015 in Venedig ein Festival, bei dem die gesamte Kammermusik Lalos vorgestellt wurde. Mit seinen (wenigen) Bühnenwerken hatte der Komponist weniger Erfolg: Seine erste Oper «Fiesque» (nach Schillers Tragödie „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“) erhielt zwar bei einem von der französischen Regierung ausgeschriebenen Opernwettbewerb den dritten Preis und wurde in Brüssel aufgeführt, schaffte es aber nicht auf eine Pariser Bühne. Von einer dritten Oper «La Jacquerie» lag beim Tod des Komponisten nur eine Skizze des ersten Akts vor, die Akte II bis IV wurden von Arthur Coquard fertiggestellt. Die Uraufführung fand 1895 in Monte Carlo statt, im selben Jahr wurde die Oper in Paris nachgespielt und verschwand danach in der Versenkung.
Der steinige Weg eines Wagnerianers
Seinen einzigen Bühnenerfolg hatte Lalo mit «Le Roi d’Ys», aber der Weg dorthin war steinig: Er beschäftige sich seit 1875 mit dem Stoff. Ende der 1870er-Jahre schien eine Aufführung an der Pariser Oper möglich, die aber nicht zustande kam. In den 1880er-Jahren hat der Komponist die Partitur revidiert, dabei offenbar Vieles gestrichen (die erste Fassung ist nicht erhalten). Mit etwa zweieinhalb Stunden Spieldauer ist «Le Roi d’Ys» für eine abendfüllende Oper verhältnismäßig kurz. Erst Paravey, der 1887 Direktor des Opéra-Comique wurde, setzte Lalos Werk auf den Spielplan, die Uraufführung fand am 7. Mai 1888 statt. In diesem Jahr brachte es das Werk auf die fast schon sensationelle Zahl von ca. 100 Aufführungen. Heute taucht die Oper kaum noch auf den Spielplänen auf: In Paris ist sie offenbar seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben worden, auf DVD ist einzig eine Produktion des Opéra de Wallonie (Lüttich) von 2000 greifbar. Erstaunlicherweise gibt es immerhin fünf Einspielungen auf CD; allgemein gelobt wird die von André Cluytens dirigierte Aufnahme von 1957, deren Tonqualität (Mono) natürlich zu wünschen übrig lässt. Bei den Solisten der jüngsten Einspielungen (von 1973, 1990 und 2008) fanden die Kritiker einhellig neben Licht auch viel Schatten. Insofern lag es nahe, zum 200. Geburtstag des Komponisten (2023) eine Neuaufnahme vorzulegen. Das Ergebnis darf als rundum gelungen bezeichnet werden.

Lalo, der Deutschland als „seine wahre musikalische Heimat“ bezeichnete, galt nicht zu Unrecht als Wagnerianer, und diese hatten es in Frankeich nach der Niederlage im Krieg von 1870/71 sehr schwer. Hinzu kam, dass Wagner 1873 sein „Lustspiel in antiker Manier“ „Eine Kapitulation“ veröffentlicht hatte, in dem er sich über seine frankophilen deutschen Landsleute, aber eben auch in sehr gehässiger Weise über die während der Belagerung von Paris hungernden Franzosen lustig machte. «Le Roi d’Ys» ist allerdings kein Musikdrama, sondern eine in der Form konservative Oper: Es gibt keine Leitmotive, Lalo schreibt Chöre, Arien, Duette und ein Quartett, die auch so bezeichnet werden. Am Anfang steht eine Potpourri-Ouvertüre, die die prägnantesten Melodien der Oper vorstellt. Sie erfreute sich schon Jahre vor der Uraufführung als Konzertstück großer Beliebtheit.
Genau wie in Deutschland hatten die Romantiker in Frankreich Volkslieder, Märchen und Sagen als zentralen Bestandteil des kulturellen Erbes entdeckt; die Bretagne bot hier eine besonders reiche Überlieferung. Volkskundler zeichneten Sagen nach den Erzählungen meist älterer Bäuerinnen und Bauern auf, Schriftsteller erzählten sie für das lesende Publikum nach. Auch Librettisten ließen sich von solchen Geschichten inspirieren. Die bis heute bekannteste „bretonische“ Oper ist «Le Pardon de Ploërmel» (besser bekannt unter dem Titel „Dinorah“) von Giacomo Meyerbeer (1859).
Die Handlung: Liebe und Eifersucht
Das Buch zu «Le Roi d’Ys» schrieb Édouard Blau, ein nicht sehr produktiver, aber durchaus erfolgreicher Librettist: Er verfasste (meist, wie in Frankreich üblich, mit Koautoren) u.a. Bücher für Jacques Offenbach («Belle Lurette», 1880) und Jules Massenet («Cid», 1885; «Werther», 1892), auch am Libretto zu Lalos «Jacquerie» war er beteiligt. Das Buch zu «Le Roi d’Ys» schrieb er ausnahmsweise allein.
Erzählt wird eine Geschichte von Liebe und Eifersucht: Der namenlose König der bretonischen Stadt Ys hat zwei Töchter, Margared und Rozenn. Beide lieben (ohne voneinander zu wissen) den jungen Ritter Mylio, der Rozenns Liebe erwidert. Er führt Krieg gegen einen namenlosen Feind – in Ys verbreitet sich das Gerücht, er wäre gefallen. Karnac, ein anderer Feind der Stadt, ist bereit Frieden zu schließen, wenn der König ihm seine Tochter Margared zur Frau gibt. Da sie annehmen muss, Mylio wäre tot, stimmt sie der Heirat zu; aber das Gerücht war falsch, Mylio kehrt siegreich aus dem Krieg zurück, woraufhin Margared ihre Zusage, Karnac zu heiraten, widerruft. Damit flammt der Krieg wieder auf, Mylio führt die Truppen des Königs und schlägt Karnac vernichtend.
Margared hat inzwischen erkennen müssen, dass Rozenn und Mylio einander lieben; in blindem Hass verbündet sie sich mit dem besiegten Karnac und weist ihm den Weg zu den Schleusen, die die zerstörerische Gewalt des Meeres von Ys fernhalten. Wenn sie erkennt, dass ihr Vater und ihre Schwester sie aufrichtig lieben, bereut sie und sucht die Katastrophe zu verhindern, aber es ist zu spät: Karnac hat die Schleusen geöffnet, die Stadt wird vom Meer verschlungen, ein großer Teil der Bevölkerung findet den Tod. Margared erkennt, dass sie sich opfern muss, um den erzürnten Himmel zu besänftigen, und stürzt sich ins Meer; daraufhin endet der Sturm, die Überlebenden danken Gott und dem heiligen Corentin, dem Schutzpatron der Bretagne.

Hohes Niveau im 43. CD-Buch
Die neue Aufnahme entstand im Januar 2024 in Budapest. Es spielt die Ungarische Nationalphilharmonie unter der Leitung ihres GMD György Vashegyi, es singt der Ungarische Nationalchor. Chor und Orchester verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit dem Zentrum Palazzetto Bru Zane, sie sind also mit französischer Musik des späten 19. Jahrhunderts gut vertraut. Wer die Aufnahme hört, ohne das Begleitbuch zur Hand zu haben, wird vermutlich annehmen, es handelte sich um französische Künstler.
«Le Roi d’Ys» ist schon die Nummer 43 in der Reihe der „livres-disques“ zur französischen Oper (bzw. Operette) von Palazzetto Bru Zane: bibliophil gestaltete CD-Bücher mit Aufsätzen zum Werk auf Französisch und Englisch. Hier sind es ein einführender Aufsatz von Alexandre Dratwicki, dem künstlerischen Leiter des Zentrums, ein weiterer über bretonische Folklore in der französischen Musik des 19. Jahrhunderts von Vincent Giroud und eine Kritik der Uraufführung 1888 von Victorin (de) Joncières. Letzterer war Komponist – eine seiner sechs Opern, «Dimitri«, erschien als Nr. 6 der Reihe – und Musikkritiker der Zeitung La Liberté. Knapp drei Viertel der bislang erschienenen CD-Bücher sind Ersteinspielungen.
Bei den Sängern fehlen die ganz großen Namen, aber alle bewegen sich auf hohem Niveau. Anders als in früheren Aufnahmen ist die Besetzung homogen, es gibt keinen Schwachpunkt. Das Liebespaar Rozenn und Mylio ragt heraus und ist mit zwei jugendlich frischen Stimmen besetzt: Die Sopranistin Judith van Wanroij macht als gefühlvolle Rozenn deutlich, dass das Mädchen ganz in ihrer Liebe aufgeht (und sich Mylio unterordnet). Der Tenor Cyrille Dubois ist als Mylio selbstbewusst und siegessicher, weil er auf die Hilfe Corentins, des bretonischen Nationalheiligen, vertraut – emblematisch ist sein Satz „les croyants sont forts“ (die Gläubigen sind stark).
Margared (Kate Aldrich, Mezzosopran) unterscheidet sich nicht nur durch die Stimmlage deutlich von ihrer Schwester: Während Rozenn für Liebe steht, macht Aldrich deutlich, dass Margared von den Dämonen von Eifersucht und Hass beherrscht ist, bis sie zuletzt ihren Fehler erkennt und bereut. Karnac (Jérôme Boutillier, Bariton) steht in diametralem Gegensatz zu Mylio (wie Margared zu Rozenn): Mylio vertraut auf Gott und seinen Heiligen Corentin, Karnac ruft die Hölle zu Hilfe, die ihn im Stich lässt. Seine Rolle ist deutlich kleiner als die der drei Hauptfiguren Rozenn, Mylio und Margared. Paradoxerweise hat die Titelfigur, der König, nur wenig zu singen, daher vermag Nicolas Courjal (Bass) ihm kaum Profil zu geben. Der heilige Corentin (Christian Helmer, Bassbariton) hat nur eine Szene; dass er Margared und Karnac als Sprachrohr Gottes auffordert, von ihrem Zerstörungsplan abzulassen, verleiht ihr allerdings Gewicht. Es besteht kein Zweifel: Obwohl die früheren Einspielungen durchaus ihre Meriten haben, liegt hier die neue Referenzaufnahme dieser Oper vor.
Bru Zane. Opéra français – French Opera. Éduard Lalo, «Le Roi d’Ys». Première édition limitée et numérotée à 4000 exemplaires. Palazetto Bru Zane. Centre de musique romantique française. Venedig 2025.