Anhaltisches Theater Dessau / Oper Leipzig

Schauer und Selbstzerstörung

Sowohl in Dessau als auch in Leipzig wurde Tschaikowskis «Piques Dame» neu inszeniert. Ein kritischer Überblick

Werner Kopfmüller • 28. Mai 2025

In Malte Kreutzfelds Dessauer Inszenierung herrscht immerfort Nacht, auch dann, wenn Herrmann (Erin Caves) versucht, der Gräfin (Tiina Penttinen) ihr Geheimnis zu entlocken © Claudia Heysel

Nicht von ungefähr warnen Suchtberatungsstellen: Glücksspiel kann abhängig machen und zu einer Reihe von finanziellen, sozialen und psychischen Problemen führen, wenn es unkontrolliert betrieben wird. Nun war Suchthilfe und -prävention noch kein ernst zu nehmendes Thema in der Medizin des 19. Jahrhunderts. Und selbst wenn, wäre es doch überaus fraglich, ob einem Patienten wie Hermann aus Tschaikowskis Oper «Pique Dame» wirklich geholfen hätte werden können. Denn der Bemitleidenswerte ist nicht nur Getriebener seiner Spielsucht, die sich aufs Kartenspiel Pharo kapriziert und das schnelle Geld verspricht, sondern er kriegt es dazu noch mit dem russischen Fatum zu tun, mit dem Schicksal in seiner verhängnisvollsten Form – was ihn folgerichtig in den Wahnsinn stürzt, in die Selbstzerstörung, in den Tod. 

Zwischen Gruselmär, surrealer Phantasmagorie und psychologischem Kammerspiel bewegt sich Tschaikowskis vorletztes Werk für die Opernbühne, für das ihm sein Bruder Modest nach einer Erzählung Alexander Puschkins das Libretto dichtete. Und für das Tschaikowski eine Musik ersann, die sich in nostalgischen Klängen ergeht, durch den Salon wandelt und bei Zarin Katharina Hof hält. Eingedenk des Umstands, dass der Komponist sich und sein problematisches Leben in der Figur des Hermann spiegelte, öffnet der Stoff der «Pique Dame» Tür und Tor für verschiedenste Assoziationsräume. 


Transparente Klänge in Gruselatmosphäre

Am Anhaltischen Theater Dessau hat man sich hingegen für die behutsame Zurücknahme entschieden: Malte Kreutzfeld, Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion, hat dazu einen mit dunklem Holz vertäfelten, dreistöckigen Arkadenhof gebaut. Kein Ort jedenfalls, der zum Verweilen einlädt und umso gespenstischer wirkt, als die verstreut herumstehenden Stühle mit weißen Tüchern behangen sind. Hier herrscht immerfort Nacht, wie in einem Gothic Novel, und selbst die gelegentlich herabgelassenen Kronleuchter ändern nichts an der beklemmenden Grusel-Atmosphäre. Kinder- und Opernchor tragen dazu passend einheitlich Schwarz (Kostüme: Katharina Beth). Kristina Baran respektive Sebastian Kennerknecht haben sie stimmlich bestens präpariert, die Choreographie von Martin Anderson platziert sie indes wie versteinerte Figuren auf der Bühne oder lässt sie gleich über den Schnürboden in der Versenkung verschwinden. Und auch wie das Liebespaar Lisa und Hermann sich einander annähert, bleibt seltsam statuarisch mit Tendenz zum Rampensingen. Dabei kann sich das Ensemble jedoch aufs ausgesprochen sängerfreundliche Dirigat der griechischen Kapellmeisterin Elisa Gogou stützen, die der Anhaltischen Philharmonie einen beweglichen, transparenten, präzisen Tschaikowski-Klang entlockt.  

Erin Caves gibt den Hermann als schwer traumatisierten Kriegsheimkehrer, der im grünen Parka über die Bühne schleicht und bei Angstattacken in eine Papptüte atmet. Sängerisch hat der amerikanische Tenor zunächst seine lieben Intonations-Mühen, steigert und stabilisiert sich aber. Ihm gegenüber ist Iordanka Derivola eine auf ganzer Linie überzeugende Lisa, ein fulminantes Rollenporträt der Kammersängerin, angesiedelt zwischen dramatischer Entladung und seelischer Versehrtheit. 

Großartig auch die Finnin Tiina Penttinen als mysteriöse Gräfin, der Hermann das siegversprechende Kartengeheimnis zu entlocken versucht: eine platinblonde Grande Dame, unterkühlt, ehrfurchtgebietend, und würdevoll als Zarin-Erscheinung. Für einen weiteren Glanzmoment sorgt Kejti Karaj als Lisas Freundin Polina mit ihrer anrührend vorgetragen Romanze. Lautstarken Applaus erntet völlig zurecht auch der junge litauische Bariton Modestas Sedlevičius, der mit dunkel-samtigen Timbre den Part des Fürsten Jeletzki mustergültig ausfüllt. Hingebungsvoll wirft er sich in seine Rolle, sodass die Frage sich aufdrängt, warum Lisa eigentlich dem abgehalfterten Hermann den Vorzug gibt. 

Unklar bleibt überdies, was die Regie mit den drei zum dauerpaffenden Trio zusammengeschlossenen Nebenfiguren Graf Tomski (herausragend wie immer: Kay Stiefermann), Tschekalinski (David Ameln) und Surin (Claudius Muth) im Sinn führte? Und dass Hermann sich als finsterer Kapuzenmann mit Fleischermesser aufmacht, aus der Gräfin das Geheimnis der drei Karten herauszupressen, erinnert dann doch, ob gewollt oder nicht, an amerikanische Teenie-Horror-Slasher der 1990er-Jahre. 

Dabei hätte sich alles zum Guten fügen können, wie das im Hintergrund seine Pirouetten tänzelnde Ballett-Paar andeutet, die Alter-Ego-Verkörperung von Lisa und Hermann. Immerhin eine Ahnung von der Leichtigkeit des Lebens, die den beiden tragisch Liebenden jedoch verwehrt bleibt. 
 

Lorenzo Fioroni visualisiert in ihrer Leipziger Inszenierung Herrmanns Wahnsinn, indem sie den lyrisch hell und empfindsam singenden Brendan Gunnell das Glitzerkleid der gemeuchelten Gräfin anlegen lässt © Kirsten Nijhof

Kranke Seelen, zupackend intoniert

Davon ist in der Leipziger Inszenierung von Lorenzo Fioroni nicht einmal mehr ein Hauch zu spüren. Menschen und (Seelen-)Landschaften sind allesamt erkrankt, gebrochen, zerstört. Einen ausgetrockneten, mit Ackerfurchen durchzogenen Weinberg hat Sebastian Hannak dazu auf die Bühne gestellt. Hoffnung auf bessere Zeiten? Ausgeschlossen. Dort, wo Aussichtslosigkeit der Normalzustand ist, bleibt nur die Fassade, hinter die man sich zurückziehen kann: In pastellfarbener Belle-Epoque-Eleganz (Kostüme, zwischen 18. und 21. Jahrhundert: Katharina Gault) flanieren die Herren und Damen des Chores über das verwüstete Gelände, als wäre die Welt noch heil. Oder man gibt sich dem Rausch hin – im Empfinden, dass die Welt um sie herum ganz und gar nicht mehr intakt ist. 

Auf der Habenseite von Fioronis drastisch-dystopischer Inszenierung ist zu verbuchen, dass er grell hineinleuchtet in die seelischen Abgründe seiner Figuren. Ein psychisches Wrack ist dieser Hermann, den Brendan Gunnell lyrisch hell und erstaunlich empfindsam singt, ein Heroin-Junkie, bei dem die Spielsucht noch das geringste Problem ausmacht. Er und Lisa, die Solen Mainguené zwischen Hysterie und Verletzlichkeit anlegt, sind zwei verzweifelt-verirrte Seelen, die sich eher zufällig ineinander verhakt haben – von Angst zerfressen, von Besessenheit getrieben. Einige schauderhafte Bilder hat Fioroni sich ausgedacht. Eines prägt sich besonders ein: Nachdem er die Gräfin (grandios böse: Ulrike Schneider) erwürgt hat, schlüpft Hermann ins silberne Glitzerkleid der Gemeuchelten. Anderes dagegen wirkt aufgesetzt, wie der Kurzauftritt des feministischen Punk-Kollektivs Pussy Riot, oder sogar deplatziert, wie die beifällige Anspielung aufs Massaker von Butscha. Und mit der in Szene gesetzten Parallelwelt zwischen Wahn und Wirklichkeit inklusive Doppelgänger-Metaphorik schießt Fioroni dann doch übers Ziel hinaus und schrammt hart an der Geschmacksgrenze zum Trash. Geht es hier um eine Parabel aufs Russland von heute? Oder zeigt sich nur, wie selbstzerstörerisch die Kräfte wüten können, die obsessive Seelen und Hirne gegen sich selbst richten? 

Musikalisch hingegen bleiben auch in den kleineren, aus dem Ensemble besetzten Rollen keine Fragen und Wünsche offen, sei es bei Matthias Hausmann als eitel-autoritärer Fürst Jeletzki oder Nora Steuerwald als überdrehte Polina. Anna Skryleva, die scheidende GMD der Magdeburgischen Philharmonie, kreiert am Pult des Gewandhausorchesters einen weniger prunkvoll schwelgenden als dramatisch zupackenden Tschaikowski-Sound, dem der sattsam-rund klingende Opernchor von Thomas Eitler-de Lint in nichts nachsteht. 


«Pique Dame» – Pjotr I. Tschaikowski
Anhaltisches Theater Dessau / Oper Leipzig

Dessau: 
Kritik der Premiere am 23. Mai 
Termin: 31. Mai 

Leipzig: 
Kritik der Aufführung am 24. Mai
Termine: 31. Mai; 4./7. Juni