Festspillene i Bergen (Bergen International Festival)

Wo man Inklusion nicht diskutieren muss

In Norwegen ist das größte Mehrspartenfestival Nordeuropas ungeachtet seiner hohen musikalischen Qualität aus Prinzip und Tradition offen für alle

Werner Kopfmüller • 07. Juni 2025


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Der Mezzosopran Adrian Angelico ist in Norwegen ein Star © Helene Myksvoll

Wenn ein Festival mit dem Label „Salzburg des Nordens“ für sich wirbt, ist Skepsis angeraten. Klaffen da Anspruch und Wirklichkeit nicht wie so oft auseinander, wenn es darum geht, sich in der europäischen Festival-Landschaft zu behaupten?

Die Internationalen Festspiele Bergen (auf Norwegisch: Festspillene i Bergen) gibt es seit 1953, sie finden jährlich zwischen Ende Mai und Anfang Juni statt. Die berüchtigte Schwelle zwischen Populär- und Hochkultur existiert in diesem größten Mehrspartenfestival Nordeuropas für Theater, Oper, Konzert, Zirkus und Tanz schlichtweg nicht. Im Gegenteil: Die kulturelle Offenheit der Norweger bringt es mit sich, dass andernorts hitzig diskutierte Themen wie Partizipation, Inklusion und Diversität längst ins Festival-Programm Eingang gefunden haben. Allerdings ohne jeden aktivistischen Unterton, ohne belehrenden Beigeschmack, sondern mit einer bemerkenswerten Entspanntheit, wie man sie bei Kulturveranstaltungen in Deutschland vermisst.

An keiner Stelle wird extra betont, dass der Mezzosopran Adrian Angelico aus dem Volk der Samen stammt und sich als nonbinär definiert, oder vielmehr als Frau, die männlich gelesen werden möchte. Angelico, in Norwegen ein Star und auch musikalisch ein Grenzgänger zwischen den Genres Oper, Folk und Pop, gibt einen Liederabend in der 800 Jahre alten, gotischen Håkonshalle wie jeder andere Sänger – mit Kunstliedern von Grieg und Schubert.

Der Theaterabend „Das geheime Leben alter Menschen“ ist ebenfalls ein bezeichnendes Beispiel für gesellschaftspolitische Vielfalt, die sich Intendant Lars Petter Hagen, seit 2022 im Amt, auf die Festival-Fahnen schreibt. Im Stück des französisch-marokkanischen Autors und Regisseurs Mohamed El Khatib wird auf Grundlage von Originalberichten die Frage nach Sexualität und Begehren der Generation Ü70 thematisiert – nicht ohne eine Portion schwarzen Humor.

Leif Ove Andsnes dirigierte vom Flügel ein Projektorchester aus Jugendlichen der Region © Thor Brodreskift

Einen gewichtigen Platz nehmen bei den Festspielen aber auch Formate für Musikvermittlung ein. Was bei großen mitteleuropäischen Festivals zumeist nur in der Nebensparte zu finden ist, gilt in Bergen als abendfüllendes Hauptprogramm. So hat sich Leif Ove Andsnes, Norwegens berühmtester Pianist, mit der Camerata Bergen zusammengetan, um Haydns Klavierkonzert Nr. 11 D-Dur im vollbesetzten Foyer der Grieghallen aufzuführen. Wohlgemerkt: Andsnes, der das Konzert vom Flügel aus dirigiert, spielt hier mit Jugendlichen aus der Region, die nicht etwa ein Spezialgymnasium für Musik besuchen, sondern nur für diesen Auftritt ein Projektorchester geformt haben – das sich durchaus hören lassen kann. Hellwach reagieren die Kids auf Andsnes‘ Impulse im schnippchenschlagenden Rondo all’Ungarese.

„Die Festspiele in Bergen“, so Andsnes danach im Gespräch, „kümmern sich um alle Publikumsschichten. Und dazu gehört selbstverständlich auch der Nachwuchs. Gerade hier in Westnorwegen, wo die Ausbildung von Streichern im Vergleich zu Oslo hinterherhinkt, fallen solche Initiativen auf fruchtbaren Boden.“

International ausstrahlen können die Festspiele in der alten idyllischen Hansestadt allerdings nur dank ihrer Komponistenheroen, die das damals noch unbedeutende Norwegen auf die musikalische Weltkarte setzten, wie es die Zeitgenossen formulierten. Ole Bull, der Paganini des Nordens, zählt zu ihnen, und natürlich Edvard Grieg, der ruhmreichste von ihnen. Man begegnet ihm in Gestalt einer Statue, inmitten einer von Blumen gesäumten Parkanlage der Innenstadt.

Sein Wohnhaus, die etwas außerhalb gelegene Villa Troldhaugen, sollte jeder Bergen-Besucher besichtigt haben. Nicht nur wegen des bestens erhaltenen Interieurs im viktorianischen Stil mit den charakteristischen honigfarbenen Holzwänden. Sondern weil die heimelige Wohnzimmer-Atmosphäre wie kein anderer Ort dazu einlädt, in die Musik des norwegischen Nationalromantikers einzutauchen, wenn auf dem Original-Steinway von 1892 zu später Stunde seine „Lyrischen Stücke“ erklingen.

Akademisten der Nationaloper Bergen (im Bild: Lasse Økland) überraschten Touristen mit Mini-Konzerten © Thor Brodreskift

Solche Salonkonzerte sind gewissermaßen das Alleinstellungsmerkmal des Festivals. Typisch für weltberühmte Festspielstätten wie Salzburg und Bayreuth, so verschieden sie in ihrem Profil sein mögen, punktet auch Bergen mit seinen lokalen Genies. Und mit der herrlichen Fjord-Landschaft, die die idyllische 300.000-Einwohner-Stadt umgibt. Den Panoramablick vom 320 Meter hohen Fløyen-Berg, vom Zentrum mit einer Standseilbahn zu erreichen, lässt sich keine Touristengruppe entgehen. 

Dabei kann es durchaus passieren, dass hoch oben auf der Aussichtsplattform jemand ganz plötzlich eine Mozart-Arie anstimmt. „Opera Up!“ heißt diese Sponti-Aktion, bei der Akademisten der Nationaloper Bergen ihre Umgebung mit einem Mini-Konzert unter freiem Himmel überraschen. Festspiele, das heißt in Bergen: Die ganze Stadt wird zur Bühne. Zwar liegen die einzelnen Spielorte im weitläufigen Stadtgebiet nicht selten einige Kilometer voneinander entfernt. Aber die Veranstaltungen sind so getaktet, dass mit dem hervorragenden Nahverkehr alles rechtzeitig zu erreichen ist.  

Das passt zum Selbstverständnis des Festivals, das nahbar und niedrigschwellig sein möchte – gerade, nachdem vor Jahren die Debatte um sein angeblich elitäres, hochkulturelles Image eskaliert war. Wenn heute Gratiskonzerte in Altenheimen und Kindergärten gleichberechtigt neben moderat ausgepreisten Sinfoniekonzerten stehen, zeigt das nur, dass traditionelle Klassik, experimentelle Gegenwartskunst und populäre Unterhaltung in Bergen nicht gegeneinander ausgespielt werden. 

Hinreißend sang Mari Eriksmoen im Abschlusskonzert unter der Dirigentin Gemma New © Thor Brodreskift

Auf diesen programmatischen Balanceakt dürfen die Festivalmacher zurecht stolz sein. Und so tritt Intendant Lars Petter Hagen beim Abschlusskonzert in der Grieghallen, dem modernen Konzertsaal mit Weinberg-Akustik, vors Publikum, dankt den Sponsoren und zitiert den Journalisten Jan Brachmann, der in der FAZ die Festspiele in Bergen als „vorbildhaft“ lobte, weil ihnen eine Deeskalation gegenwärtiger Kulturkämpfe gelinge, ohne Abstriche bei der Qualität zu machen.

Angenehm fällt auf, dass sich die Norweger auch beim traditionellen Festival-Finale betont unprätentiös geben. Das Gläschen Wein oder die Flasche Bier mit an den Sitzplatz zu nehmen, ist hier kein No-go. Aufmerksam gelauscht wird dennoch, wenn die Neuseeländerin Gemma New das Philharmonische Orchester Bergen dirigiert, und sich die französische Pianistin Shani Diluka halsbrecherisch in den Klavierpart von Edvard Griegs a-Moll-Konzert wirft. Vor der Pause gibt es, passend zur Jahreszeit, Mendelssohns „Sommernachtstraum“ als Schauspielmusik in norwegischer Übersetzung, mit gewitzt-charmant aufspielender Besetzung und einer hinreißend singenden Mari Eriksmoen. Bewusst wird damit der Bogen geschlagen zum Nationalromantiker Grieg, der ohne seine Ausbildung am von Mendelssohn gegründeten Leipziger Konservatorium nicht der geworden wäre, den die Musikwelt heute verehrt. Kleine Völker scheinen manchmal doch den größeren Horizont zu haben – damals wie heute. 

Die „Festspillene i Bergen“ mögen nicht mit großer Oper oder weltweit gefeierten Gast-Orchestern aufwarten können. Dafür lassen sich hier Festspiele erleben, die Populär- und Hochkultur gleichermaßen vereinen. Und das wiederum könnte, mit Blick auf die Zukunft des Klassikpublikums, tatsächlich ein Vorbild sein. Das Salzburg des Südens darf sich da gerne etwas abschauen.


Festspillene i Bergen (Bergen International Festival)

Besuch vom 2. bis 4. Juni 2025
Die nächste Ausgabe findet vom 27. Mai bis 10. Juni 2026 statt // fib.no/en