Monteverdi Festival Cremona
Männliche Schaulust und weibliche Hysterie
Das Traditionsfestival für Alte Musik in Claudio Monteverdis Geburtsstadt punktet mit einer hohen Dichte an heimischen Talenten, aufstrebenden Namen und sehenswerten Spielstätten
Stephan Burianek • 18. Juni 2025

Wenn am Eingang zum Parkett die Carabinieri in farbenfroher Paradeuniform mit Napoleonhut und Säbel stehen, dann wohnt man einer wichtigen Veranstaltung bei – so, wie kürzlich bei der Eröffnung der 42. Ausgabe des Monteverdi Festivals im klassizistischen Teatro Ponchielli in Cremona, das als Veranstalter des Festivals fungiert.
Als Regisseur hatte man Davide Livermore gewonnen, der bereits vor 33 Jahren als Sänger bei diesem Festival debütierte und nun bei seiner ersten Inszenierung einer Monteverdi-Oper außerdem als Vielfraß Iro in «Il ritorno d‘Ulisse a patria» (Die Heimkehr von Odysseus in seine Heimat) auf die Cremoneser Bühnenbretter zurückkehrte. Livermores Leidenschaft für das Theater wird in dieser Partie, die er stimmlich passabel ausfüllt, offenkundig. Überzeugend spielt er die Figur mit einer Art Pappkrone und verdrecktem Trägerleibchen, das viel zu klein ist für den beachtlichen Schwabbelbauch darunter, als eine Mischung aus Hofnarr und wahnsinnigen Obdachlosen. Livermore gibt damit die Stoßrichtung für seine Sicht auf dieses Werk vor, in dem die Welt von lächerlichen Charakteren geprägt ist. Das schließt auch die Götter mit ein, die sich bei Livermore ebenso wie die Allegorien unter eine von Militärgewalt geprägte Gesellschaft in der Vergangenheit, vermutlich der 1930er-Jahre, mischen. Eine andere Lesart wäre, dass Livermore die Götter in dem Werk gänzlich eliminiert, Odysseus also Unterstützung und Gegenwehr durch einen faschistischen Machtapparat sowie einer dörflichen Inselgemeinschaft erhält.
Oper in Zeiten des Kriegs
Neptun ist jedenfalls der brutale Kapitän eines Kriegsschiffs, dessen Soldaten den gefangenen Odysseus gewaltsam in seiner Heimat aussetzen. Wie das bei Machtmenschen häufig zu beobachten ist, gibt sich Neptun als gewissenhafter Familienvater, zumindest lässt der Goldfisch als Mitbringsel darauf schließen. Jupiter wirkt in seiner an den Duce erinnernden Militäruniform mit einem Riesenteddybär nicht minder grotesk. Luigi De Donato füllt Neptun mit einer sonoren Tiefe aus, Valentino Buzza ist ein solider Jupiter. Minerva wiederum macht sich erfolglos an Odysseus‘ Sohn Telemaco heran, was meisterhaft komisch inszeniert und erstklassig gesungen wird: Arianna Vendittelli liefert mit stimmlicher Vehemenz und Durchschlagskraft sowie überzeugendem Spiel wohl die eindrücklichste Leistung an diesem Premierenabend. Als ihr Herzblatt erfreut Jacob Lawrence mit klarem, schön präsentem Tenor.

Die kurzweilige Inszenierung ist zum einen von den pseudorealistischen „Bühnenbildern“ des Studios „D-Wok“ unter der Leitung von Eleonora Peronetti geprägt, die über einen Bildschirm, der die gesamte Bühnenrückwand einnimmt, in einen klassizistischen Palast oder auf den Platz einer mediterranen Insel versetzt. Zum anderen ist da Livermores lebendige Personenführung, die nicht nur zu Beginn die Schaulust bedient, wenn im Prolog Chiara Osella als Allegorie der menschlichen Zerbrechlichkeit in schonungsloser Nacktheit zu singen hat. Mit den weiteren Allegorien der Liebe (Giulia Bolcato) und des Schicksals (Cristina Fanelli) bildet sie einen Teil jener Dorfgemeinschaft, die im „Ballo“ im 2. Akt ausgelassen ein Volksfest begeht, während im Hintergrund frische Lava die Hänge eines Vulkans hinabfließt. Bald darauf wird Mauro Borgioni als ideal besetzter Odysseus mit Pfeilen die drei Freier seiner Frau Penelope durchbohren, die bei Livermore gemeinsam mit Odysseus als Soldaten an Land gekommen sind. Eher blass bleibt Margeritha Maria Sala als Penelope, die nach einem Unfall in der Generalprobe mit Armbinde singen muss. Das liegt wohl auch ein wenig an der undankbaren, passiven Rolle, die ihrer Figur in dem Werk zugedacht wird. Ihre volle Mittellage verschafft ihr eine schöne stimmliche Präsenz, in der Höhe wirkt ihre Ausdruckspalette indes limitiert. Das Alte-Musik-Orchester La Fonte Musica unter der Leitung seines Gründers Michele Pasotti bewegt sich in der Gesangsbegleitung bewegten Schrittes durch die Partitur und lässt vor allem in den instrumentalen Zwischenspielen mit großem Farbenreichtum aufhorchen.
Weinerliche Heldinnen & Hoffnungsschimmer
Ob Penelope, die auf Odysseus wartet, oder Airadne, die vom undankbaren Theseus auf der Insel Naxos zurückgelassen wird: Schon früh ergötzte sich das Publikum an lamentierenden Frauen, in der griechischen Antike ebenso wie zu Beginn der Operngeschichte und danach. Als emotional unstabil und als hysterisch sah der männliche Blick das andere Geschlecht, und ironischerweise verdanken wir dieser Denke einige der bewegendsten Musikstücke.

Nicht von dieser Welt war, wie die Sopranistin Roberta Mameli in ihrem Konzert „Ariadne’s Echo“ in der ehemaligen Klosterkirche der heutigen Katholischen Universität ihre klare, ausdrucksvolle Stimme in den höchsten Koloraturen im Piano mehrfach zu einer faszinierenden, sphärisch wirkenden Entrücktheit formte. Ausgehend von Monteverdis einziger erhaltenen Arie „Lasciatemi morire“ aus der verschollenen Oper «Lamento d‘Arianna», die in den ersten Festivaltagen gleich dreimal in unterschiedlichen Interpretationen zu hören war, widmete sich Mameli einer emotionalen Bandbreite, die den Bogen von weiblicher Wut und Verzweiflung hin zu Zärtlichkeit und Barmherzigkeit spannte. Die Grundlage dafür bildeten eine Reihe unveröffentlichter Werke von Monteverdi-Zeitgenossen wie Luigi Rossi (1597-1653), Marco Marazzoli (1602-1662) sowie anonyme Komponisten, deren Partituren in unterschiedlichen Bibliotheken ausgegraben wurden. Begleitet wurde Mameli von dem erstklassigen, relativ neu formierten Ensemble Theatro dei Cervelli, dessen Gründer und Leiter Andrés Locatelli auf einer betörend warm klingenden Blockflöte begleitete. Zu den instrumentalen Zwischenstücken zählte u.a. ein Werk von Domenico Mazzocchi (1592-1665), „S’io mi parto o mio bel sole“, in dem Locatelli auf seiner Flöte virtuos den Gesangspart spielte. Locatelli hat laut Biographie im Programmheft in der Vergangenheit mit führenden Ensembles wie Il Pomo d’oro und Les Musiciens du Louvre zusammengearbeitet. Es bleibt zu hoffen, dass „Ariadne’s Echo“ in der beschriebenen Formation bald auf Tonträgern einer breiteren Hörerschaft zugänglich gemacht wird.
Generell vermittelte der Auftakt des Monteverdi Festivals, dass Italien über eine höchst lebendige Alte-Musik-Szene verfügt und dass man sich auch über ihre Zukunft keine Sorgen zu machen braucht. Die beiden kostenlosen Finalkonzerte zweier Meisterklassen der „Monteverdi Academy“ des Festivals standen nämlich den übrigen „Kaufkonzerten“ in qualitativer Hinsicht keineswegs nach: Das junge Sidar Ensemble, bestehend aus zwei Sopranistinnen und einem Quartett aus Violine, Viola da Gamba, Theorbe und Cembalo sowie der aus sechs Sängern bestehende Arco Amoroso waren zuvor von Chorleiter Antonio Greco, dem Odysseus-Darsteller Mauro Borgioni und dem Dirigenten Michele Pasotti unterrichtet worden.

Für diese Talente stehen die Chancen gut, dass auch sie in Zukunft einmal im Konzertsaal des Museo del Violino, Cremonas höchst sehenswertem Violinmuseum, auftreten werden. Diesmal war es der energiegeladene Maayan Licht, der immer wieder durch die Reihen des steil ansteigenden, Weinberg-artigen Saals lief und hüpfte, ohne dass ihn das in seinem packenden Gesang zu stören schien. Gemeinsam mit der Accademia Bizantina unter der Leitung von Ottavio Dantone führte er in dem mit „Dolce tormento“ betitelten Konzert durch die Stürme der Liebe, die Komponisten wie Monteverdi, Alessandro Scarlatti, Vivaldi und Händel zu Papier gebracht haben. Der gefeierte Sopranist packte insbesondere mit einem virtuosen Mix aus langgezogenen Tönen, Koloraturen und Trillern, die die anspruchsvolle, viel zu selten gesungene Arie „Sposa, non mi conosci“ aus der Oper «La Merope» von Germiniano Giacomelli erfordert.
Der einzige Wermutstropfen während der ersten Festival-Tage war die Klimaerwärmung, die im traditionell schwülen Cremona die Juni-Temperaturen auf bis zu 35 Grad Celsius schnellen ließ. Von einer Reise zu diesem Geheimtipp-Festival in der Hauptstadt des Geigenbaus sollte man sich freilich nicht abschrecken lassen. Die intime Atmosphäre der meisten Spielstätten, die auch den schmucken Innenhof des Palazzo Fodri einschließen, ist einmalig.
Monteverdi Festival Cremona
Die 42. Ausgabe läuft noch bis zum 29. Juni 2025. Als zweite Opernproduktion wird im Teatro Ponchielli am 27. und am 29. Juni eine Neuinszenierung von Francesco Cavallis Oper «Ercole Amante» gezeigt. // www.monteverdifestivalcremona.it