Staatsoper Unter den Linden
Troja, das Eis und die Wahrheit
In Berlin hatte Bernard Foccroulles Oper «Cassandra» ihre deutsche Erstaufführung, in der die Seherin aus der griechischen Mythologie auf eine heutige Klimaforscherin trifft
Joachim Lange • 21. Juni 2025

Der Belgier Bernard Foccroulle hat sich vor allem als Intendant der La Monnaie Oper in Brüssel (1992 bis 2007) und als Chef des Musikfestivals in Aix-en-Provence (2007 bis 2018) internationales Renommee erworben. Selbst musiziert und komponiert hat er während dieser Funktionen ebenso. Was noch fehlte, war eine Oper. Die hat er nach seiner quasi amtlichen Arbeit für das Genre nachgereicht. «Cassandra» zu einem Libretto von Matthew Jocelyn wurde 2023 in der La Monnaie Oper uraufgeführt. Jetzt folgte an der Berliner Staatsoper Unter den Linden die deutsche Erstaufführung dieser Produktion. Marie-Eve Signeyrole (Regie), Fabien Teigné (Bühne), Yashi Tabassomi (Kostüme) und Artis Dzērve (Videomitarbeit) gelingt vor allem eine stringente, teils opulente Überblendung der Zeitebenen bzw. ihrer Verflechtung.
«Cassandra» ist in dreizehn Szenen und einen Prolog gegliedert, die pausenlos ineinander übergehen. Gesungen wird englisch. Nur der Klageruf „Ototoi popoi da“, den Aischylos Kassandra in den Mund gelegt hat, taucht immer wieder auf und bleibt auch hier unübersetzbar. Und das Bachzitat „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ (BWV 26) gönnt sich der bachliebende Komponist als Zitat für den Chor in der Originalsprache. Wenn sich die kantabel süffige, nie verstörende Musik nach etwa 110 Minuten in die Stille davonstiehlt, hat man das Gefühl, dass das Zeitmaß stimmt.
Die Geschichte bietet gleich zwei ungehörte Seherinnen. Die eine ist die Kassandra aus dem griechischen Mythos. Apollo persönlich hatte ihr erst die Sehergabe verliehen. Als sie sich dann aber seinen Nachstellungen verweigerte, spuckte er ihr in den Mund und versah so die Gabe mit dem Fluch, dass ihr niemand glauben würde. Die zweite Seherin ist eine Klimaforscherin von heute. Diese Sandra Seymour versucht ihre Erkenntnisse über das Abschmelzen der Polkappen in Form einer (warum auch immer) Stand-up-Show unter die Leute zu bringen. Darunter befindet sich auch der Altphilologie-Student Blake, mit dem sie eine Beziehung eingeht. Sie promoviert über das Abschmelzen des arktischen Eises, er schreibt seine Abschlussarbeit über Aischylos’ „Agamemnon“.

Der Plot lebt von der Gleichzeitigkeit des Mythos dort und einer parallelen Konstellation der ungehörten Warnungen vor dem Untergang hier. Dort Troja, hier die ganze Welt. Wissen über das, was kommen könnte, hatte und hat weder dort noch hier Konsequenzen, so die Botschaft. Bei Sandra kommt noch hinzu, dass ihre Eltern Victoria und Alexander die Personifizierungen einer robusten Erdung sind. An einer opulenten Geburtstagstafel zeigt sich, dass der von der Tochter erforschte Klimawandel für die Eltern weniger der Vorbote des Untergangs, als vielmehr die Chance ist, frei werdende Ressourcen profitabel zu erschließen.
Beim Wechsel zwischen diesen Ebenen versuchen Librettist und Komponist sich auf die Seite der Möglichkeiten zu schlagen, die Sandra heute im Vergleich zu ihrer mythischen Vorgängerin Kassandra hat. Heute spuckt kein Gott mehr. Dafür lässt sich aber auch im offenen Diskurs jede potenzielle Gefährdung erfolgreich ausblenden. Im Personaltableau ist es die Schwester von Sandra, die schwanger wird und trotz allem ein Kind bekommt. Doch die im Orchester summenden Streicher-Bienen und projizierten Schwärme stehen metaphorisch für das Artensterben, also die Gefährdungen des Lebens schlechthin. Ausgerechnet Blake kommt dann auch noch bei einer Aktivisten-Schiffsreise in die Antarktis ums Leben.
In die sinnlich griffige, sich mit eingängiger Opulenz dahinwälzende, dräuende Musik lässt der Komponist immer mal ein abbrechendes Stück Eis dissonant krachen. Akustisch bleibt aber immer die Weite des Ozeans in der heimtückschen Schönheit präsent. Die könnte freilich jedes Land schlucken. Während in Troja zwischen den eingestürzten Trümmern des raumbeherrschenden, wandelbaren und mit Bienenwaben gefüllten Kubus, nach Überlebenden gesucht wird, sind es in der Gegenwart eher die Hilferufe von den (metaphorischen) Rettungsboten, die auf dem imaginären Meer schwimmen. Statt plakativer Illustrationen solcher Art setzt die Regie zum Glück auf die Musik und die Wirkung poetischer Bilder.
Am Ende begegnen sich beide Frauen. Die aus der Vergangenheit, die keine Chance hat, gegen den Fluch des Gottes. Die andere, die trotz allem ihre Stimme erheben kann. Und der zumindest manche glauben, auch wenn sie ihr, wie ihre Eltern, nicht folgen.

Die in Wien ausgebildete serbische Mezzosopranistin Katarina Bradić führt mit ihrer dunkel beweglichen Ausstrahlung das Ensemble an. Die amerikanische Sopranistin Jessica Niles ist ein komplementär wunderbar passendes vokales und darstellerisches Spiegelbild von heute dazu. Die Szene, in der sich beide begegnen, ist ein musikalischer Höhepunkt des Abends. Auch Susan Bickley bewältigt mit ihrem eloquenten Mezzo den Spagat ihrer Doppelrolle als Hecuba in der trojanischen Geschichte und Sandras Mutter Victoria eindrucksvoll. Sarah Defrise ist als Sandras Schwester Naomi ein Soprangegenstück dazu.
Bei den Männerrollen überzeugt der kanadische Bariton Joshua Hopkins als markant auftrumpfender Apollo ebenso wie als ärgerlicher Zwischenrufer vom Rang aus, während Valdemar Villadsen als Sandras Geliebter Blake Mühe hatte, nicht im Strom der den Diskurs umspülenden Musik der groß besetzten Staatskapelle unterzugehen. Wobei die Dirigentin Anja Bihlmaier, die sich mit Vehemenz ins Getümmel vor Troja und in die Reflexion der Klimakrise wirft, stets darauf bedacht ist, den ausführlichen Diskurs zwar zu umspülen und zu tragen, aber nicht unter sich zu begraben. Der von Dani Juris einstudierte Chor überzeugt raunend im Hintergrund und auf der Bühne, aber auch mit seinen inszenierten Zwischenrufen von den Rängen aus.
«Cassandra» – Bernard Foccroulle
Staatsoper Unter den Linden (Berlin)
Kritik der Premiere am 19. Juni
Termine: 22./25. Juni; 3./11. Juli