Festival d‘Aix-en-Provence

Alles nur ein (Alb-)Traum?

Christof Loy inszenierte «Louise» von Gustave Charpentier, mit Elsa Dreisig in vokaler Hochform als Titelfigur, die sich von einer grauen Maus zur Königin der Bohème wandelt

Roberto Becker • 07. Juli 2025

Im stimmungsvollen Théâtre de l’Archevêché wird in diesem Jahr Gustave Charpentiers «Louise» auch Cavallis «La Calisto» © Vincent Beaume

So oft, wie in dieser Neuproduktion für das Festival in Aix-en-Provence der Name Luise auf der Bühne fällt, gibt’s das im deutschen Sprachraum höchstens im Schauspiel – wenn Schillers „Kabale und Liebe“ auf dem Plan steht oder in der „Pension Schöller“ genau das geprobt und verballhornt wird. Bei Gustave Charpentier (1860-1956) ist diese Louise die Titelheldin seines größten (Opern-)Erfolges aus dem Jahre 1900.

Der im Mai überraschend in Peking an einem Herzinfarkt verstorbene Intendant der Festspiele Pierre Audi hatte dieses Werk dem bunt durchmischten, so traditionsbewussten wie ambitionierten Jahresprogramm hinzugefügt, um vor allem dem heimischen Publikum eine französische Farbe zu bieten. Es ist eine etablierte Tradition, dass auch die Opéra national de Lyon und ihr Orchester in Aix-en-Provence als Koproduzenten mit von der Partie sind – diesmal unter der Leitung von Giacomo Sagripanti.

Eröffnet wurde das Festival heuer mit einem «Don Giovanni» im Grand Theéâtre de Provence, bei dem vor allem Sir Simon Rattle, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und eine überzeugende Protagonistenriege dem verqueren Regiedebüt von Robert Icke wenigstens einen musikalischen Rettungsring zu warfen. Mit einer «Billy Budd»-Adaption von Oliver Leith nach Benjamin Britten begeisterten hingegen die Regie von Ted Hufman und eine Riege junger Sänger im kleineren Théâtre du Jeu de Paume. Für den Ehrgeiz von Pierre Audi, das Festival in die außereuropäische Welt ausstrahlen und nach Frankreich zurückwirken zu lassen, stand diesmal Südindien: mit Sivan Eldars und Ganavya Doraiswamys «The Nine Jewelled Deer». Dafür hatten die Festspiele zum dritten Mal ins Luma Zentrum nach Arles eingeladen. Den Schlusspunkt des Premierenreigens liefert Francesco Cavallis «La Calisto» im Théâtre de l’Archevêché.

In diesem stimmungsvollen Freilufttheater wird derzeit auch «Louise» gespielt. Für die eigentlich fast schon zu banale, aber im Kern immerhin noch nachvollziehbare Geschichte, hatte sich der Komponist selbst das Libretto geschrieben. Der für die Eltern schmerzhafte Prozess der Loslösung einer jungen Frau aus der Enge ihrer Herkunft, aus der Übervorsorge ihrer Mutter und der Affenliebe des Vaters, ist in eine opernobligate Lovestory eingebettet und umrahmt von einem Hohelied auf die französische Hauptstadt – auf die immer noch abrufbaren Klischees einer Stadt der Lichter, der Liebe, der Freiheit, des Lebens und der Montmartre-Bohème. International und im Ansatz auch heutig ist der Blick auf die Geschichte gleichwohl.

Louise (Elsa Dreisig) emanzipiert sich von ihrem übergriffigen Vater (Nicolas Courjal) und von der gestrengen Mutter (Sopie Koch) © Monika Rittershaus

Christof Loy (Regie), Etienne Pluss (Bühne) und Robby Duiveman (Kostüme) haben vor die Fassade des erzbischöflichen Palais ein opulentes Bühnenbild gesetzt, das zwischen verschiedenen Zuschreibungen changiert: ein Saal mit hohen Fenstern, die bei geöffneten Läden einen Blick über die Dächer von Paris erahnen lassen, altmodische Sitzbänke aus Holz, Türen, von denen eine offensichtlich in einen Behandlungsraum führt. Es bleibt bei diesem Einheitsraum, in dem später ein Riesenaufgebot von Näherinnen bei der Arbeit ist oder am 14. Juli feierwütige Pariser das Klischee bedienen, samt Trikolore und allem drumherum.   

Loy konzentriert sich darauf, in dem pathosgeladenen, eloquenten Dauerparlando von Charpentiers farbig schillernder Musik das existenzielle Drama einer Kleinfamilie aufzuspüren, das erst dann eins wird, wenn die Eltern ihre Sorge um die Tochter übertreiben. Natürlich haben sie was gegen den erfolglosen Dichter Julien, der sich um ihre Louise bemüht. Er sieht zwar blendend aus, ist aber nach mütterlichem Urteil vor allem das – ein Blender. Damals wie heute reizen elterliche Einsprüche aber eher zum Aufbruch ins eigene Leben, als dass sie ihn verhindern. Louise bricht aus, schlüpft – auch im übertragenen Sinn – in das opulent weiße Brautkleid, das in der Näherei gerade seiner Vollendung entgegengeht.

Im ersten Teil zieht sich das alles auch musikalisch ziemlich hin. Eine französische Antwort auf Puccini? Mag ja sein, aber Antworten sind nicht per se besser. Nach der Pause hält die Partitur ein Liebes- und Hochlebe-Paris-Duett in einem Format wie jenem von Dido und Aeneas in den «Trojanern» von Berlioz bereit. Das vermag selbst bis dahin reservierte Zuhörer zu begeistern. Elsa Dreisig (an deren Namen übrigens auch das Sternchen angebracht ist, das sie als Absolventin der Akademie der Festspiele ausweist) ist da längst in vokaler Hochform auf dem Weg von der verklemmten grauen Maus zur Königin der Bohème. Aber auch der sportive Adam Smith hat nach deutlichen Anlaufschwierigkeiten zu einem überzeugenden Julien gefunden. 

Nicht klar wird bei Loy, ob sich Louise (Elsa Dreisig) mit ihrem Julien (Adam Smith) wirklich vereinigt, oder ob die Affäre ein (Alb-)Traum bleibt © Monika Rittershaus

Seinen eigenen Überwältigungsreiz hat das Riesenfest zum Nationalfeiertag, das in Gestalt der Massen des von Benedict Kearns einstudierten Chores der Oper Lyon hereinbricht. Wenn hier Sophie Koch als gestrenge Frau Mama im schicken Fünfzigerjahre-Kostüm dazwischenfunkt und ihre Tochter mit der Botschaft von der Erkrankung ihres Vaters aus dem (in ihren Augen) Sündenpfuhl zurück nach Hause holt, ist noch mal Geduld gefragt. So wie Nicolas Courjal sich als dunkler, stimmgewaltiger und übergriffiger Vater an seine Tochter klammert, kann die sich nur losreißen und aus dem Fenster springen. Wobei da keine Lebensgefahr bestehen dürfte, denn das wurde davor schon reichlich für gefahrlose Auf- und Abgänge genutzt. Am Ende ist man wieder in der behaupteten psychiatrischen Klinik, wo sich eigentlich der Vater behandeln lassen müsste. 

Weil jetzt aber Julien als Arzt mit weißem Kittel erscheint und Louise nach der Behandlung, welcher Art auch immer, ihren Eltern übergibt, war vielleicht eh alles nur eine Art Traum Louises? So viel Ambivalenz musste bei dem deutschen Starregisseur dann doch sein, wenn schon ein solcher musikalischer Aufwand mit einer eher schlichten Geschichte getrieben wird. Einmal sperren die Näherinnen Louise in einen Schrank, um sie zu foppen. Man fragt sich, ob man sie – im übertragenen Sinne und als Oper – wirklich unbedingt wieder rauslassen sollte. Im hochsommerlichen Aix-en-Provence war das fürs zufrieden applaudierende Premierenpublikum keine Frage.


«Louise» – Gustave Charpentier
Festival d‘Aix-en-Provence · Théâtre de l’Archevêché

Kritik der Premiere am 5. Juli
Termine: 9./11./13. Juli