Baltic Opera Festival
Gekommen um zu bleiben
Im dritten Jahr setzte man sich an der Danziger Bucht u.a. mit Strauss‘ «Salome» und Pendereckis «Lukas-Passion» für demokratische Werte ein. Die Finanzierung der nächsten Jahre scheint gesichert
Stephan Burianek • 15. Juli 2025

Mit einem Mal dringt Lagerfeuerwärme durch den kühlen Wald bei Sopot an der baltischen Küste. Auf der riesigen Bühne der Waldoper wurde soeben ein geschätzt sieben Meter hohes Gestell in Brand gesetzt, das in der Inszenierung von Barbara Wiśniewska den szenischen Höhepunkt der «Lukas-Passion» des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki bildet (vollständiger Titel: «Passio et mors Domini nostri Iesu Christi secundum Lucam» – Leiden und Tod unseres Herrn Jesus Christus nach Lukas). In einem Halbkreis um das Gestell herum intonieren drei Chöre, jeder auf einer eigenen Tribüne, das von Penderecki bereits vor der «Lukas-Passion» komponierte und in dieses Werk integrierte „Stabat Mater“.
In seinem mächtigen Oratorium schrieb Penderecki gleichsam eine Jahrhunderte alte Tradition fort, indem er die geistliche Chormusik in den Geist des 20. Jahrhundert einbettete und dem Chor zeitweise durch Passagen des Sprechens und Flüsterns eine zusätzliche dramaturgische Funktion verschaffte. In Sopot übernehmen drei erstklassige Sänger die Solopartien: Olga Bezsmertna (Sopran), Adrian Eröd (Bariton) und Artur Janda (Bass), der kurzfristig und famos für den verkühlten Matthias Goerne eingesprungen ist. Kaum besser klingen könnte außerdem die Sinfonia Varsovia mit dem Dirigenten Bassem Akiki, dessen violettes Glitzerkostüm nicht über die professionelle Umsicht hinwegtäuschen kann, mit der er diese große Aufgabe, freilich mithilfe der jeweiligen Chorleiter, meistert.
Man muss nicht jedes Detail in Wiśniewskas Inszenierung verstehen, um von ihrer Wirkung begeistert zu sein. Der Wald, der in Sopot die Hinterbühne begrenzt, wurde auf die Bühne verlängert und wird szenisch über Live-Video und mit beeindruckenden Lichteffekten von Bogumił Palewicz eingebunden. Wenn das brennende Gestell vom Boden hochfährt, erinnert es ein wenig an Moses‘ Steinplatten mit den zehn Geboten. Wenig später werden die beiden Teile wie ein Flügelaltar ausgeklappt, das vermeintliche Triptychon sieht dann aus wie ein Reisekoffer. Diese Entwicklung wirkt geradezu genial: Moses‘ Gebote verweisen auf die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens, der Altar kann als Sinnbild für Demut und Barmherzigkeit gedeutet werden, und der Reisekoffer steht für die Kriegsflüchtlinge dieser Welt.
Humanistischer Leitfaden mit Monster
Von einem Kinderchor dargestellt, werden diese Flüchtlinge im Laufe des Abends mit Wärmedecken versorgt. Damit reflektiert Wiśniewska einen humanistischen Themenblock, der auf den Plakaten des diesjährigen Baltic Opera Festivals von einem Astronauten als „einsamer Wanderer“ symbolisiert wird und der jede Produktion wie ein roter Faden durchzieht: Einsamkeit, Ausgrenzung und Menschlichkeit.

Anders als im deutschsprachigen Raum derzeit üblich, kommt dieses Festivalmotto nicht mit dem Holzhammer, sondern stets mit einem gewissen Maß an Subtilität. Das offenbarte sich nicht zuletzt im Danziger Operhaus bei Alek Nowaks neuer Oper «Die Stimme des Monsters» (Originaltitel: „Głos Potwora“) auf ein Libretto von Robert Bolesto. Inspiriert soll dieses 70-minütige Werk von dem Film „Europa Europa“ (1990) der Regisseurin Agnieszka Holland sein, der im Deutschen unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ bekannt ist.
Von der Handlung über einen jüdischen Jugendlichen, der es mit einer Mischung aus Bauernschläue und unwahrscheinlichem Glück unter Hardcore-Nazis zu überleben schafft, hat sich die Oper allerdings bis zur Unkenntlichkeit entfernt. Der „Hitlerjunge“ ist nun ein Sohn von Medusa, der griechisch-mythologischen Schlangenfrau, die einst als Schönheit von Poseidon vergewaltigt wurde und dafür, von der eifersüchtigen Pallas Athene zum Monster entstellt, sogar büßen musste. Medeas Sohn soll nun in einem Museum eine Ausstellung über seine Mutter kuratieren, wobei niemand seine Herkunft erfahren darf (nicht sein beschnittenes Glied könnte ihn verraten, wie im Film, sondern seine hohe Stimme).
Es ist schade, dass die Handlung derart verkopft und abgehoben ist, denn Nowaks abwechslungsreiche Musik hätte durchaus das Zeug für ein breites Publikum. Schneidende Streicher werden von raschen, warmtönenden Auf- und Abwärtsbewegungen der Bläser konterkariert, ein hämmernder Marschrhythmus trifft auf Suspense. Mehr einen inneren Zustand als eine dramatische Handlung beschreibend, changiert dieses Quasi-Einpersonenstück (mit Chor) kraftvoll zwischen Thriller und Traum. Ungemein versatil meistert der Countertenor Jan Jakub Monowid seine Partie, und das Orchester des Danziger Opernhauses unter Yaroslav Shemet unterstreicht das hohe musikalische Niveau, das in Polen auch außerhalb der Hauptstadt Warschau anzutreffen ist.
Performativer Tanz zu Schubert und Strauss
Die Nazi-Gräuel bilden auch den Ausgangspunkt einer Produktion von Schuberts «Winterreise», die in einer ehemaligen, nun zum alternativen Kunstraum transponierten Schiffswerft gezeigt wurde. Der Bass Łukasz Konieczny hat sich dafür von einem Notizbuch inspirieren lassen, in dem sein Urgroßvater Kazimierz Fidler seine Erlebnisse als KZ-Häftling niedergeschrieben hat. Auch in diesem Konzept wird der Inhalt des Ausgangsobjekts nicht direkt vermittelt, auch wenn in den Video-Projektionen vor einer mit Graffiti übersäten Wand darauf ebenso Bezug genommen wird wie auf die Gedichte von Krzysztof Kamil Baczyński, der als 23-jähriger im Warschauer Aufstand 1944 gefallen ist.

Łukasz Konieczny (Bruder von Tomasz Konieczny) interpretiert den von Nikolaus Rexroth am Klavier begleiteten Liederzyklus nicht bloß mit einer kräftigen, sonoren Stimme. Er wird auch Teil der Choreografie von Boris Ranzio, der optisch ein wenig an Roberto Benigni in „Das Leben ist schön“ erinnert und visuell die Trauer, das kurzweilige Glück und die Schwebezustände der Schubert’schen Lieder reflektiert. Zwiespältig könnte man das Ende dieser Performance-Produktion auffassen: Die Nachfahren wollen sich des bedrückenden Kapitels entledigen und überlassen das Notizheft einer Art Hexe, die es ins Feuer wirft. Doch was passiert, wenn die Erinnerung erlischt?
Sowohl Łukasz Konieczny als auch Jan Jakub Monowid wirkten überdies in der diesjährigen Hauptproduktion mit: Der künstlerische Leiter und Gründer des Festivals Tomasz Konieczny begründete die Programmierung von Richard Strauss‘ «Salome» mit der Tatsache, dass dieses Werk ursprünglich in einem Garten spiele, und dass die Bäume, die in Sopot hinter der Bühne aufragen, szenisch gut in das Stück eingebunden werden können. Zugleich zeigte sich, weshalb dieses Werk so gut wie nie bei großen Open-Air-Festivals gezeigt wird, ist seine Handlung doch gleichsam ein Kammerspiel, dem man als Zuschauer besser aus einer gewissen Nähe folgt. Da half es auch nicht viel, dass die Bühne um Kriegsflüchtlinge (links) und jüdische Soldaten (rechts) verlängert wurde, die auf einer Vorderbühne zwischen Orchester und Publikum durch Stacheldrähte getrennt waren.
Unabhängig davon tönte es mustergültig aus dem Graben, Piotr Jaworski dirigierte die einmal mehr hochklassige Sinfonia Varsovia mit einem großen Sinn für Transparenz und klanglicher Ausgewogenheit. Die Hauptpartien sangen ausschließlich Stars: Jennifer Holloway brillierte in der Titelpartie insbesondere im fordernden Schlussgesang, Gerhard Siegel und Claudia Mahnke bestätigten ihre internationale Stellung als Idealbesetzung für die Partien des König Herodes bzw. dessen Gattin Herodias, und Oleksandr Pushniak meisterte den Propheten Jochanaan makellos. Lediglich an der Akustik hätte man noch arbeiten können. Im Gegensatz zu den beiden Vorjahren wurde die Opernproduktion diesmal nicht oder nur sehr dezent elektronisch verstärkt, die Solisten klangen mitunter allzu fern.
Die werkgetreue Inszenierung von Romuald Wicza-Pokojski fokussierte auf das Familiendrama, Jochanaans abgeschnittener Kopf sorgte für eine gesunde Brise Grusel. Aber wird man irgendwann einmal einen „echten“ Schleiertanz sehen? Hier wurde er nicht einmal wirklich angedeutet: In der Choreografie von Maćko Prusak rollten sich Holloway und ihre drei Gehilfinnen in sicherer Distanz zu König Herodes ein wenig unbeholfen in Leintücher ein und wieder aus.
Überraschende Erlösung

Die stimmungsvolle, mit der deutschen Geschichte verbundene Waldoper und seine betont Völker verbindende, demokratische Grundwerte hochhaltende Ausrichtung machten das Baltic Opera Festival von Beginn an auch für internationale diplomatische Beziehungen interessant. Die Mühlen der Bürokratie mahlen freilich langsam, sie sollen Tomasz Konieczny in der Vergangenheit so manche schlaflose Nacht bereitet haben. Obwohl mit dem in Wien lebenden Professor Tadeusz Krzeszowiak und dem polnischen Ölkonzern Orlen bereits Mäzene bzw. Sponsoren gewonnen werden konnten, ist ein Festival dieses Formats nur mithilfe von öffentlichen Subventionen zu stemmen. In einem Interview im Programmbuch spricht Konieczny ziemlich offen über diesbezügliche Herausforderungen, insbesondere über den Stress, aufgrund der branchenüblichen Gegebenheiten die Künstlerverträge noch vor den offiziellen Zusagen öffentlicher Stellen abschließen zu müssen.
Die Klage blieb nicht unerhört. Eine Vertreterin des Kulturministeriums reiste mit einer Überraschung zu einer Pressekonferenz in Sopot: Konieczny brauche sich keine Sorgen zu machen, denn sie könne dem Baltic Opera Festival weiterhin die Finanzierung von zwei Dritteln des Budgets für die nächsten fünf Jahre garantieren. Der ebenfalls am Podium sitzende Sänger beklatschte die neue Kunde dankbar und laut.
Das Baltic Opera Festival wird demnach künftig einen festen Platz im europäischen Sommerfestival-Kalender einnehmen. Das Programm für das kommende Jahr ist bereits fix: Mit Aufführungen von Wagners «Walküre» (mit Tomasz Konieczny als Wotan und als Regisseur) und Moniuszkos «Straszny dwór» (Das Gespensterschloss) dürften die langen Zuschauerreihen der riesigen Waldoper auch dann wieder gut gefüllt sein.
Diese Kritik beruht auf Vorstellungen vom 10. bis 12. Juli. Das nächste Baltic Opera Festival findet vom 2. bis 8. Juli 2026 statt. // balticoperafestival.pl/de