Chigana Festival
Der Zukunft beim Wachsen zusehen
In Siena bringt die Accademia Musicale Chigiana junge Musiker zusammen. Besucher erleben erstklassige Konzerte, in kleinen Opernproduktionen hört man die Stars von morgen
Stephan Burianek • 29. Juli 2025

Wer in diesen Tagen die Stadt Siena in der Toskana besucht, der kommt am Chigiana Festival nicht vorbei. Auf Plakaten prangt das diesjährige Motto „Derive“ (deutsch: „Abweichungen“), das auf ein Werk von Pierre Boulez anspielt, dem ein Schwerpunkt gewidmet ist. Im einstigen Pilger-Hospital Santa Maria della Scala wird dieses Motto mit einer Kunstausstellung reflektiert, und auf dem muschelförmigen Piazza del Campo steht eine riesige Bühne, auf der James Conlon kürzlich das landesweit ausgestrahlte „Konzert für Italien“ (Concerto per l'Italia) dirigiert hat, mit dem Symphonischen Nationalorchester der RAI und mit der Pianistin Lilya Zilberstein.
Als OPERN·NEWS den Komponisten und Kulturmanager Nicola Sani trifft, der seit mehr als einem Jahrzehnt als Künstlerischer Direktor die Geschicke der Accademia Musicale Chigiana leitet, steht die große Bühne auf dem Palazzo del Campo noch. In diesem Jahr beschloss die Stadt erstmals, sie nach der Aufzeichnung nicht gleich abzubauen, sondern für weitere neun Tage für Konzerte auch anderer Musikrichtungen und für Filmaufführungen zu nutzen. Das Angebot wurde dankbar angenommen, der Platz war an fast jeden Abend gesteckt voll. „Über die klassische Musik haben wir damit einen Impuls für Kunst und Unterhaltung in Siena generell geliefert“, sagt Sani, während wir vom Balkon eines Cafés auf den Platz hinabblicken, „die Menschen haben jetzt die Möglichkeit, die Stadt auf eine Weise zu erleben, die es hier bislang nicht gab.“
Täglich junges Publikum

Wie alle Veranstaltungen auf dem Piazza del Campo sind diese Konzerte kostenlos. Interessanter für Klassikfans sind aber jene Aufführungen, die im Rahmen des Chigiana Festivals für einen Spottpreis an sehenswerten Orten in Siena und in der Region zu erleben sind – in Kirchen, Palazzi, Konzertsälen, Theatern, Weingütern oder im Innenhof der Universität. Zu den Highlights zählen sicherlich die Konzerte in der Klosterruine San Galgano, weniger als eine Autostunde südwestlich von Siena, sowie die Opernproduktionen im Teatro dei Rinnovati, das sich im ikonischen Palazzo Pubblico befindet, und im nicht minder originellen Teatro dei Rozzi.
Insgesamt 120 Veranstaltungen gibt es in diesem Sommer, sie werden von auffallend vielen jungen Menschen besucht, das Outfit ist leger. Der Grund: Es spielen nicht nur häufig junge Musiker, die im Palazzo Chigi-Saracini, dem Sitz der Accademia, an einem der Meisterkurse teilnehmen, sondern die Konzerte werden hauptsächlich von ebendenselben besucht. „In einer Welt, in sich junge Künstler ständig in Wettbewerben beweisen können, gehen wir einen anderen Weg“, führt Sani aus, „wir wollen vielmehr die künstlerische Zusammenarbeit fördern, und es freut mich sehr, dass sich die Musiker, Studenten wie Professoren, ganz stark ins Publikum mischen. Man arbeitet nicht nur miteinander, sondern wächst auch dadurch, dass man einander zuhört.“
An dieser Stelle muss man erwähnen, dass mit „Studenten“ fast ausschließlich Musiker und Musikerinnen mit einem abgeschlossenen Musikstudium zu verstehen sind. In den Meisterklassen bei Koryphäen wie Salvatore Sciarrino (Komposition), Lilya Zilberstein (Klavier), Tabea Zimmermann (Bratsche) oder David Geringas (Cello) verfeinern sie ihr Können. Daniele Gatti gibt normalerweise die Dirigierklassen, wird in diesem Jahr aber wegen seines Bayreuth-Engagements von Luciano Acocella und Michel Tabachnik vertreten. In diesem Jahr besuchen 450 Studenten insgesamt 33 Meisterkurse – zwei Rekordzahlen in der Geschichte der Accademia. Auch interessant: Die Kursgebühren sind sehr niedrig. Mehr als die Hälfte des Budgets der Accademia wird über private Sponsoren und Mäzene gedeckt. Darüber hinaus bemüht man sich auch um projektbezogene diplomatische Patronanzen. Der Boulez-Schwerpunkt wird in diesem Jahr u.a. von der französischen Botschaft und vom Institute Français unterstützt.
Das Festival-Programm weist zahlreiche penibel durchdachte Querverbindungen auf und beinhaltet Zeitgenössisches ebenso wie mittelalterliche Chöre und Barockmusik. Auch zwei Musiktheater-Werke wurden von der Chigiana in Auftrag gegeben: Eine von Matteo d’Amico komponierte «Herodiade» auf das gleichnamige Gedicht von Stéphane Mallarmé wurde gleich zu Beginn des Festivals gezeigt, und am 27. August ist die Universität Mozarteum Salzburg zu Gast, um die von der Accademia Chigiana beim Komponisten Yann Robin bestellte Oper «Medusa» zu präsentieren – in einem Doppelabend mit Alessandro Scarlattis «La Giuditta», dessen Salzburger Premiere von OPERN·NEWS besprochen wurde.
Gesangsklasse im Gefängnis

Das Festival ehrte in diesem Jahr auch Luigi Dallapiccola, der an der Accademia Chigiana in den 1950er-Jahren Komposition unterrichtete. Im Teatro dei Rozzi realisierte man – in zwei unterschiedlichen Besetzungen – die von ihm selbst erstellte Kammerfassung seiner Oper «Il prigioniero» (Der Gefangene). Die Solisten und Solistinnen kamen aus der Gesangsklasse von William Matteuzzi, der unter seinen Studenten für seine eiserne Disziplin bekannt ist und der sich selbst als „Deutschen unter Italienern“ bezeichnet, wie in OPERN·NEWS bereits im vergangenen Jahr zu lesen war.
Im «Prigioniero», der gleichsam eine Brücke zwischen Dallapiccolas neoklassizistischer und seiner dodekaphonischen Phase bildet, lieferte der Komponist sowohl in der Partie des Gefangenen, der auf den Sturz eines repressiven Regimes und auf seine erfolgreiche Flucht hofft, als auch in jener von dessen Mutter maximale Entfaltungsmöglichkeiten zwischen innerer Verzweiflung, Hoffnung und dem scheinbaren Ziel vor Augen. In Siena sind diese Partien in der ersten Besetzung (die nicht als Reihung zu verstehen ist) mit zwei vielversprechenden Stimmen besetzt: Aya Soeno interpretiert die Mutter mit einer dominierenden Präsenz, klangschön und mit eindrucksvollem Volumen, und nicht minder stimmmächtig manifestiert Tamon Inoue die Verzweiflung des Gefangenen, erschüttert am Ende gar mit den als Frage formulierten letzten Worten „La libertá?“ (Die Freiheit?). Zugleich hat man den Eindruck, dass beiden Interpreten ihre Partien zu kontrastreich, zu filigran sind, dass sie in einer großen romantischen Oper besser aufgehoben wären. In dieser Hinsicht brillierte Angelica Lapadula als Mutter tags zuvor bei der Generalprobe, sie war im vergangenen Jahr ebenfalls schon Teil von Matteuzzis Gesangsklasse gewesen. Als Kerkermeister, der dem Gefangenen auf sadistische Weise Hoffnung macht, lässt Enrico Basso aufhorchen.

Künstlerisch sind die Sänger in den besten Händen. Für die musikalische Leitung von Klavier (Luigi Pecchia), Orgel (Francesco Mencarini) und Schlagzeug (Angelo Maggi) zeichnet mit Mario Ruffini immerhin der Leiter des Dallapiccola-Studiumzentrums in Florenz verantwortlich. Hinzu kommt die unglaubliche Qualität, die der Chor der Seneser Kathedrale „Guido Chigi Saracini“ unter Lorenzo Donati trotz des unglaublich großen Arbeitspensums während des Festivals verlässlich zu liefern imstande ist.
Der Regisseur Davide Garattini verband das „äußere“ Gefängnis der Dallapiccola-Oper mit dem „inneren“ Gefängnis, das in der Mono-Oper «La voix humane» (Die menschliche Stimme) von Francis Poulenc zutage tritt, zu einem Doppelabend. Auch hier bot Poulenc der einzigen Gesangssolistin auf der Bühne die Möglichkeit, stimmlich aus sich herauszugehen. Immer noch scheint der Mann, der sich längst eine andere Geliebte gesucht hat, der einzige Lebensinhalt der verlassenen Frau zu sein. „Das Telefonkabel ist die letzte Verbindung, die uns verbleibt“, singt die Verletzte weinerlich ins Telefon, an dessen anderen Ende der Leitung ein wohl schon ordentlich genervte Mann sitzt. Im Hintergrund verräumen Statisten (die Solisten des zweiten Teils des Abends) die für einen Umzug bereits zusammengestellten Möbel, bevor sich die Frau mit dem besungenen Telefonkabel selbst stranguliert. Von lediglich einem Klavier (Francesco De Poli) statt einem Orchester begleitet, überzeugte die vom Publikum stark umjubelte Zuzanna Klemańska mit einer überzeugenden Interpretation zwischen Tragik und Hysterie.
Humanistische Werte
Vor den Aufführungen des Doppelabends verwies Sani in kurzen Ansprachen nicht nur auf den diesjährigen 50. Todestag von Dallapiccola, sondern auch auf die Befreiung der Konzentrationslager vor 80 Jahren. Die Kunst wird von Sani ganz klar als Träger von humanistischen Werten verstanden. Auf die Frage, wie Sani in Anbetracht des Wiedererstarkens von faschistischen Kräften in Italien die aktuelle Situation in der Kulturszene einschätzt, reagiert er gleichermaßen ausweichend wie direkt: „Meine Antwort auf diese Frage ist meine Oper «Falcone» [die das Mafia-Attentat auf den Untersuchungsrichter Giovanni Falcone im Jahr 1992 zum Thema hat, Anm.]. Darin geht es um einen Helden, der sich für die Gesellschaft einsetzt und dabei allein gelassen wird.“ – vergleichbar also mit jenen, die sich heute gegen faschistische Tendenzen einsetzen. „Wir Künstler können positiv auf die Gesellschaft einwirken. Eine Schülerin, die zur Zeit des Attentats noch nicht geboren war, hat mir erzählt, dass sie erst durch meine Oper von Falcone und seinem Kampf erfahren hat.“
In Siena wachsen die jungen Talente nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich. Und sie knüpfen Verbindungen, die mitunter ein Leben lang halten: Als Zubin Metha vor drei Jahren für das „Konzert für Italien“ zurückgekehrt war, soll er Daniel Barenboim angerufen und ihm gesagt haben: „Ich stehe gerade da, wo wir einander kennengelernt haben“. Gemeinsam mit Claudio Abbado besuchten die beiden späteren Stars die Dirigerklasse von Carlo Zecchi. Wer das Chigiana Festival besucht, der sieht keine Roben und keine Fliegen, sondern hört der Zukunft stattdessen beim Wachsen zu.
Das Chigiana Festival läuft bis zum 2. September. Am 27. August gastiert die Universität Mozarteum Salzburg mit einem von Florentine Klepper inszenierten Doppelabend der von der Accademia Musicale Chigiana in Auftrag gegebenen Oper «Medusa» von Yann Robin sowie Alessandro Scarlattis «La Giuditta» (Judith). Im ersten Teil dirigiert Kai Röhrig das Ensemble für Neue Musik, im zweiten leitet Vittorio Ghielmi das Barockorchester (beides Uni-Mozarteum-Klangkörper) // https://www.chigiana.org
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