Innsbrucker Festwochen der Alten Musik

Göttlicher Gesang mit Puppen

Die Companyia Per Poc inszenierte Antonio Caldaras «Ifigenia in Aulide» mit Handpuppen. Die Accademia Bizantina unter Ottavio Dantone lieferte die musikalische Basis für souverän intonierte Koloraturen

Albert Gier • 19. August 2025

Die Handpuppen der Companyia Per Poc doppeln in diesem Bild Klytaimnestra (Shakéd Bar) und deren Tochter Iphigenie (Marie Lys), die den Göttern geopfert werden soll und ihre Mutter zu trösten versucht © Birgit Gufler

In Innsbruck beginnt die Oper «Ifigenia in Aulide» so, wie sie sonst endet: mit der „Licenza“, einer Huldigung an Kaiser Karl VI., der seiner Frömmigkeit wegen vom Himmel begünstigt wird und das Goldene Zeitalter zurückbringt. Die Licenza, die im 17. Jahrhundert die Aufführung beschließt, wird heute meist gestrichen; in der Inszenierung der Companyia Per Poc (Anna Fernández und Santi Arnal, die sich auch, aber nicht nur dem Marionettentheater widmen) steht sie als Prolog am Anfang, was keine schlechte Idee ist.

Den Hintergrund des Bühnenbildes von Alexandra Semenova bildet eine Wand, die in viele gleichgroße Quadrate unterteilt ist; sie zeigen Bilder von Tieren und Pflanzen, auch einen Springbrunnen, den wir später in Originalgröße auf der Bühne sehen. Manche Bildmotive kommen mehrfach vor (z.B. der Kopf eines griechischen Kriegers mit Helm), andere nur einmal.

Die Handlung beginnt mit der Rückkehr des Achilles nach Aulis: Er hat die Insel Lesbos, die mit Troja verbündet ist, erobert und ihre Fürstin Elisena gefangengenommen. Achilles, der Countertenor Carlo Vistoli, ist der Star der Aufführung: Er ist mit Agamemnons Tochter Ifigenia verlobt und hofft, dass die Ehe noch vor dem Aufbruch nach Troja geschlossen wird. Wenn er erfährt, dass seine Braut der Göttin Diana geopfert werden soll, entlädt sich sein Zorn in höchst virtuosen Ausbrüchen, für die er vom Publikum mit Recht gefeiert wird.

Schuld am Zorn der Göttin ist Agamemnon, Ifigenias Vater und der Oberbefehlshaber der griechischen Flotte, die gegen Troja in den Krieg ziehen soll, weil der trojanische Prinz Paris die Gattin von Agamemnons Bruder Menelaos und die schönste Frau der Welt – Helena – entführt (oder verführt?) hat. Agamemnon hat eine Hirschkuh erlegt, die Diana heilig war, und sich außerdem gerühmt, ein besserer Jäger zu sein als die Göttin. Diana hat deshalb dafür gesorgt, dass eine langanhaltende Flaute die griechischen Schiffe in Aulis festhält. Nur die Opferung Ifigenias kann, so der Seher Calchas, die Göttin versöhnen. Agamemnon spielt eine unglückliche Rolle: Natürlich will er das Leben seiner Tochter retten, aber gegen die Griechen, die die Schmach rächen wollen, die Paris ihnen angetan hat, und vor allem gegen den „listenreichen Odysseus“ hat er keine Chance. Der Tenor Martin Vanberg weckt Verständnis für Agamemnons Situation, aber, so schön er auch singt, er kann nicht verhindern, dass der König etwas hilflos und überfordert wirkt. Die Rolle des Odysseus (der Tenor Laurence Kilsby, mit geschmeidig beweglicher Stimme) ist nicht sehr groß, aber allein, dass er den Brief abfängt, mit dem Agamemnon die Aufforderung, seine Frau Klytaimnestra möge mit Ifigenia nach Aulis kommen, widerruft, da ihre Hochzeit verschoben werden müsse, zeigt, wer die Fäden in der Hand hat.

Ifigenia ist die Schweizer Sopranistin Marie Lys. Sie hat eindeutig die dankbarste Rolle, kann ein breites Spektrum von Gefühlen zeigen, mit ihrer warmen, leuchtenden Stimme macht sie das sehr einfühlsam: Sie liebt ihren Bräutigam, zweifelt aber an seiner Treue, wenn er sich, wie es scheint, zu Elisena hingezogen fühlt. Sie will und kann nicht glauben, dass ihr Vater, der sie doch zärtlich liebt, ihren Tod will, und quält ihn zusätzlich mit ihren Bitten um Gnade. Erst wenn sie versteht, dass ihr Tod scheinbar die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass die Griechen Rache an den Trojanern nehmen können, ergibt sie sich in ihr Schicksal und ist bereit zu sterben, versucht sogar, ihre verzweifelte Mutter zu trösten.

Klytaimnestra (Shakèd Bar) begehrt gegen ihren etwas hilfos wirkenden Gatten Agamemnon (Martin Vanberg) auf, kann sich aber nicht durchsetzen © Birgit Gufler

Die zweite große Frauenrolle ist natürlich Klytaimnestra – eine starke Frau, entschlossen und energisch. Wenn Agamemnon ihr mit einer fadenscheinigen Begründung verbietet, an der angeblichen Hochzeit Ifigenias mit Achilles teilzunehmen – von Hochzeit ist natürlich nur die Rede, um die geplante Opferung der Tochter zu verschleiern (!) –, begehrt sie auf, kann sich aber nicht durchsetzen. Allein zurückgeblieben, beklagt sie das harte Los der Frauen, denen der Mann „an Körperkraft, nicht aber an Verstand überlegen ist“. Wenn sie von Arkas, dem Vertrauten Agamemnons, erfährt, was mit ihrer Tochter geschehen soll, will sie mit ihr sterben. Die Mezzosopranistin Shakèd Bar („eine Stimme von außergewöhnlicher Lebendigkeit und Präsenz“ schrieb die New York Times) singt und spielt die verzweifelte Mutter hervorragend.

Auf Lesbos hat Achilles mit Feuer und Schwert gewütet und Elisena als Sklavin fortgeschleppt. Dennoch hat sie sich in den attraktiven Mann verliebt und hofft, ihn für sich zu gewinnen. Wenn sie erkennen muss, dass er nur Ifigenia liebt, versucht sie die Griechen aufzuhetzen, damit sie die Opferung ihrer Rivalin erzwingen. Dass sie, wie sich zuletzt herausstellt, selbst das Opfer ist, das Diana verlangt, mag man als ausgleichende Gerechtigkeit sehen: Bevor Helena Menelaos heiratete, soll sie einer Variante des Mythos zufolge die Geliebte des Theseus – eines der berüchtigtsten Schürzenjäger der Antike – gewesen sein und ihm eine Tochter geboren haben, die sie Iphigenie nannte. Menelaos verschwieg sie die Existenz dieser Tochter, um die sie sich, wie es scheint, nicht weiter gekümmert hat. Das wirft natürlich kein gutes Licht auf Helena, ebenso wenig wie ihr Verhältnis mit Paris, bei dem man allerdings als mildernden Umstand anführen kann, dass die fast allmächtige Göttin Aphrodite – lateinisch Venus – es so wollte. Da der Seher Calchas voraussah, dass das Mädchen als Iphigenie jung werde sterben müssen, ließ man sie als Elisena aufwachsen. 

Zuletzt wird Calchas offenbart, dass Helenas Tochter das Opfer ist, das Diana fordert, und Elisena tötet sich selbst. Ihre Rolle ist nicht groß – nur drei Arien –, trotzdem nimmt sie entscheidenden Einfluss auf die Handlung. Die junge Sopranistin Neima Fischer wirkt so sympathisch, singt so schön und meistert ihre Koloraturen so souverän, dass man trotz ihrer Intrigen eher Mitleid mit Elisena hat und den griechischen Kapitän Teucro (Teuker) versteht, der sich in sie verliebt hat und ihr beistehen will; Filippo Mineccia macht das Beste aus dieser kleinen Rolle. Dasselbe gilt für Giacomo Nanni als Arcade (Arkas), den Vertrauten des Agamemnon. Die Accademia Bizantina sorgt unter der souveränen Führung ihres Chefdirigenten Ottavio Dantone, der seit 2023 auch Musikalischer Leiter der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik ist, für reine Freude aus dem Graben und begleitet die Sänger aufmerksam und einfühlsam.

Ein Schwerpunkt der Companyia Per Poc liegt beim Marionettentheater. In dieser Inszenierung gibt es zwar keine Marionetten, aber immerhin nicht ganz lebensgroße Puppen: Elisena hat fast ständig eine Puppe bei sich, die man vielleicht als Double der Sängerin verstehen kann. Klytaimnestra bekommt erst später eine Puppe, die deutlich jünger ist als die Königin. Soll man in ihr Ifigenia erkennen? Sie hat allerdings keinerlei Ähnlichkeit mit der Sängerin Marie Lys. Ifigenia ist nur in wenigen Szenen eine Puppe beigegeben. So recht will sich die Bedeutung dieses Einfalls nicht erschließen.

Wer mäkeln will, kann auch an der Existenz der beiden Iphigenien Anstoß nehmen (diese Variante des Mythos kommt erstmals bei dem griechischen Schriftsteller Pausanias, 2. Jh. n.Chr., vor und wurde von Jean Racine in seiner Iphigenie-Tragödie aufgegriffen – die französische Klassik kennt ja auch Tragödien mit glücklichem Ausgang): Agamemnon hat Diana erzürnt, dass sie den Tod seiner Lieblingstochter fordert, um ihn zu bestrafen, ist grausam, aber immerhin nachvollziehbar. Der Tod Elisenas dagegen dürfte Agamemnon kaum berühren, und vermutlich auch ihre Mutter Helena nicht, sollte sie überhaupt davon erfahren. Warum also gibt sich die Göttin mit diesem Opfer zufrieden? Aber das ist nachrangig. Viel wichtiger ist, dass Antonio Caldara zu einem gut konstruierten Libretto von Apostolo Zeno herrliche Musik komponiert hat.


«Ifigenia in Aulide» - Antonio Caldara
Innsbrucker Festwochen der Alten Musik · Tiroler Landestheater / Großes Haus

Kritik der Aufführung am 12. August