Arena di Verona

Backstage bei Carmen

Was passiert, wenn man plötzlich selbst Teil der Oper wird? Unsere Autorin Susanne Dressler stand in Verona bei «Carmen» als Statistin auf der Bühne – inmitten von Sängern, Toreros, Pferden und vor 15.000 Menschen

Susanne Dressler • 27. August 2025

Nicht alle Personen auf der Opernbühne sind, so wie Luca Micheletti und Aigul Akhmetshina in der Bildmitte, ausgebildete Sänger und Sängerinnen. Es braucht auch Statisten © Ennevi

Francesca gibt mir Halt. Sie hält meine Hand, hakt ihren Arm bei mir ein. Gemeinsam steigen wir die breiten Stufen hinauf. Sie führen nicht irgendwohin, sondern auf die Bühne der Arena di Verona. Für einen Abend bin ich Statistin in der weltberühmten Open-Air-Arena – und zwar bei Georges Bizets «Carmen». Francesca ist Tänzerin, sie hat mehrere Wochen geprobt, um sich als Komparsin trittsicher über die Bühne und durch die Vorstellung zu bewegen. Ich dagegen habe keine Ahnung, was auf mich zukommt – deshalb habe ich einen Profi an meiner Seite. Sie flüstert: „Andiamo.“


Ein Blick dahinter

Zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn um 21 Uhr erhalten meine Kollegin, MDR-Musikredakteurin Grit Schulze und ich, eine kurze Einführung durch Yamal Das Irmich. Wir betreten die Bühne der Arena di Verona. Ehrfurchtsvoll betrachten wir die Cavea, in der sich in Kürze rund 15.000 Menschen einfinden werden. Die Vorstellung ist ausverkauft. Mir wird heiß – nicht nur vor Aufregung, sondern auch wegen der glühenden 34 Grad, die in den Steinen der fast 2.000 Jahre alten Arena gespeichert sind. Ein schmaler Vorhang, genäht aus ausgemusterten Kostümen der letzten 30 Jahre «Carmen», verhindert den direkten Blick auf die Bühne. Seit drei Jahrzehnten ist hier die Regiearbeit von Franco Zeffirelli zu sehen, vor drei Jahren wagte die Fondazione Arena di Verona eine Auffrischung der legendären Inszenierung. Yamal Das Irmich war Regieassistent des berühmten Opernregisseurs und hat die opulente Szenerie sozusagen mit aus der Taufe gehoben. Er betont mehrfach, wie sehr man hier bedacht ist, den italienischen Film- und Theaterstar zu ehren. „Alles ist durchchoreografiert, das kleinste Detail fällt auf.“ Seine mahnenden Worte helfen mir jedoch nicht, meine Aufregung in den Griff zu bekommen.

Unsere Autorin Susanne Dressler in ihrem Kostüm als Bäuerin © Grit Schulze

„Niemals ins Publikum schauen“, schärft er uns noch ein und erklärt, dass wir im ersten, zweiten und vierten Akt auf der Bühne stehen werden. Gemeinsam mit 500 weiteren Statisten, mit Pferden, Kutschen und Eseln – auf einer Bühne von 1.500 Quadratmetern, 47 Meter breit und 39 Meter tief. Schon die Überquerung ohne Kostüm treibt mir erneut den Schweiß auf die Stirn. Yamal mustert die beiden Bühnennovizinnen: „Du spielst eine Sigarera, und du eine Contadina.“ Ich bin also für die nächsten Stunden eine Bäuerin.

Weiter geht es schnellen Schrittes zur Kostümprobe. Hinter der Bühne herrscht längst Hochbetrieb: Hunderte Menschen sorgen hier täglich von Mitte Juni bis September für einen reibungslosen Ablauf der Aufführungen. Eine Garderobiere reicht mir Unterrock für Unterrock, bis ich in vier Schichten dicker Baumwolle stecke. Das einzig Luftige an meinem Kostüm ist die safranfarbene Bluse – über die jedoch ein Korsett geschnürt wird. Mit flinken Fingern näht sie den Oberteil so um, dass es halbwegs sitzt. Sie ist eine von mehr als 60 Schneiderinnen, die hier für die Passform von 4.500 Kostümen sorgen.

Die Schminktische sind überfüllt: Pinsel, Lidschatten, Puder, Rouge, Kämme, Schwämme, Wimperntusche. Mit wenigen Strichen zaubert die Maskenbildnerin Farbe in mein Gesicht. Die Vorstellung startet in Kürze, die Durchsagen,wer wo zu sein hat, häufen sich. Wahrscheinlich ist die Außentemperatur inzwischen auf 33 Grad gesunken.


Winken, flirten, tanzen

Die nächsten Stunden laufe ich an Francescas Hand vorbei an Teppichhändlern, „unterhalte“ mich mit Brezelverkäufern, winke mit Blumen und Fahnen, flirte mit Toreros, tanze Polonaise, spiele eine Betrunkene und trinke aus leeren Weinbechern. „Immer in Bewegung bleiben!“ lautet die Devise. Der Orchestergraben kommt mehrmals gefährlich nah, und ich sehe mich schon mit gerafften Röcken auf die Trompeten stürzen. Doch erstaunlicherweise läuft alles wie geschmiert – und langsam beginnt es, Spaß zu machen. Beim großen Auftritt von Escamillo (Luca Micheletti) sitze ich weit vorne auf der Bühne, juble wie alle anderen dem smarten Torero zu und klatsche freudig im Takt auf meine Schenkel. Ich wage einen verbotenen Blick ins Publikum. Dort, wo 15.000 Menschen sitzen sollen, sehe ich nur eine schwarze Wand. Während des dritten Akts dürfen meine Kollegin und ich pausieren. Wir nutzen die Zeit, um durch den Gang hinter der Bühne zu streifen. Dort, wo einst vermutlich Gladiatoren und Löwen auf ihren letzten Kampf warteten, befinden sich heute Garderoben, Kostüme, Schminkutensilien und Requisiten. Die Kulissen lagern vor der Arena und werden entweder per Kran auf die Bühne gehoben oder während der Vorstellung von wieselflinken Bühnenarbeitern verschoben. Zeit für ein wenig frische Luft – es hat nun „nur“ noch 32 Grad – und um die anderen Statisten zu beobachten. 


Ein Universum für sich

Man sammelt sich in kleinen Gruppen, raucht, trinkt Wasser, unterhält sich. „Viele hier kennen sich schon lange“, erzählt Francesca. Einer ihrer Kollegen ist seit 25 Jahren Statist in der Arena. Er kennt die Bühne in- und auswendig – und viele Hauptdarsteller gleich dazu. Auch die Intendantin Cecilia Gasdia stand einst als Statistin auf der Bühne, bevor die gebürtige Veroneserin ihre steile Karriere als Opernsängerin begann. Heute ist sie als erste Frau seit sieben Jahren für das alljährliche Sommerspektakel zuständig – und damit auch für fast 1.500 Mitarbeiter während der Saison. Rund 60 bis 70 Prozent der Besucher kommen aus dem Ausland – das spült ordentlich Geld in die Stadtkasse von Verona. Doch nicht nur Touristen sind da: Für viele Veroneser und Veneter gehört ein Besuch in der Arena zur Familientradition. „Verona ist wie eine Bomboniera, ein süßes Gastgeschenk, das man bei besonderen Anlässen wie Hochzeit, Taufe oder Kommunion den Gästen für zuhause überreicht“, schwärmt Francesca von ihrer Heimatstadt.

Übrigens: Das beste Hör- und Seherlebnis hat man auf den nummerierten Plätzen unten – nach den höher dotierten Poltronissime und vor der Gradinata, den Steinstufen.

 

Wer in Verona auf der Bühne steht, der wird von 30.000 Augen gesehen © Ennevi

Grande finale

Don José (Francesco Meli) und Carmen (Aigul Akhmetshina) sitzen auf einem Pferd und warten auf ihren Auftritt. Endlich habe ich Gelegenheit, die beiden Hauptdarsteller zu sehen – denn während meines Einsatzes auf der Bühne nehme ich die Musik nur als fernes Hintergrundrauschen wahr. Zu sehr bin ich mit dem „Bloß-nicht-stolpern“ beschäftigt, und zu viele Menschen sind auf der Bühne. Gesungen wird hier ohne Mikrofone; das Oval der Arena wirkt wie ein natürlicher Resonanzkörper. Während wir neugierig hinter der Bühne das eifrige Treiben beobachten, schwebt Michaelas (Mariangela Sicilia) anrührende Stimme durch den jahrtausendealten Gang. Sie erzählt gerade José vom baldigen Tod seiner Mutter. Applaus rauscht durch die Arena, der Umbau geht schnell. Ein letztes Mal treffe ich Francesca und laufe mit ihr die Stufen hinauf. Beim Einzug der Picadores und Toreros dürfen meine Kollegin und ich jubeln, mit Fähnchen winken und im Kreis tanzen. Die weiten Röcke stören gewaltig beim Niederknien für den Segen des „Priesters“. Doch ohne mich im Kostüm zu verheddern, gelingt es mir aufzustehen – die steilen Arenastufen geht es ein letztes Mal hinunter. Carmen ist inzwischen von Don José erstochen worden. Wir Statisten halten uns betroffen in den Armen. 15.000 Menschen, die ich immer noch nicht sehen kann, klatschen und jubeln. „Das ist dein Beifall“, flüstert Francesca.

Die Garderobiere schält mich aus dem Kostüm, und ich schlüpfe erleichtert in mein hauchdünnes Sommerkleidchen. Es ist halb zwei Uhr morgens, als wir unseren reservierten Tisch auf der Piazza Brà erreichen. Während wir uns Luft zufächeln, schreitet Aigul Akhmetshina die Restaurantreihe entlang, bis zu ihrem Tisch. „La Carmen della serata“, ruft ihre Begleitung laut. Die Gäste der gut besuchten Restaurants stehen auf und klatschen. Ein Gänsehautmoment. Ein Abend, den ich so schnell nicht vergessen werde. 


Die Autorin hatte im Rahmen einer Pressereise die Gelegenheit, am 14. August als Statistin an der Opernaufführung teilzunehmen. Wer sich als Komparse bewerben möchte, verfolgt am besten die Ausschreibungen unter https://www.arena.it/de/arbeiten-sie-mit-uns/personalsuche. Das Casting für die Opernaufführungen 2026 wird im Frühjahr bekanntgegeben.