Národní divadlo (Prag)

Der Weg zur Besserung

Calixto Bieito hält uns in seiner Deutung von Mozarts «Idomeneo» einen Spiegel vor, Konrad Junghänel dirigiert das Orchester der Prager Staatsoper packend, die Sängersolisten brillieren

Stephan Burianek • 07. Oktober 2025

Bei Calixto Bieito lieben sich mit Idamante (Rebecka Wallroth in Blau) und Ilia (Jekatěrina Krovatěva in Gelb) zwei Frauen © Serghei Gherciu

Wenn sich kurz vor dem dritten Akt von Mozarts «Idomeneo» ein riesiges Fischernetz vom Schnürboden senkt und mit Getöse unzählige Plastikkanister freigibt, die sich über die trostlos-graue Bühne verteilen, dann sorgt das im Kopf für Fragezeichen. Denn sogleich wird die phrygische Prinzessin Ilia inmitten dieser wüsten Landschaft von „lieblichen Lüften, blühendem Grün“ und „anmutigen Blumen“ singen. Diese Brechung kann man als albern empfinden oder als Hinweis auf den sündhaften Umgang des Menschen mit seiner Umwelt annehmen. 

Klar ist in diesem Moment jedenfalls, dass Calixto Bieito immer noch für Überraschungen gut ist. Intendanten und Dramaturgen schätzen die solide Arbeitsweise des baskischen Regiemeisters, für mediale Aufmerksamkeit sorgten in der Vergangenheit immer wieder allzu realistisch gezeigte Gewaltexzesse. Das wiederum gefiel dem Publikum zumeist weniger, zumal Bieito trotz penibler Recherchen oftmals sehr frei mit den Werken umgeht und ihnen eine sehr spezifische Sichtweise aufdrückt. 

Eine brutale Schlägerei erfand Bieito für die diesjährige Saisoneröffnungs-Opernproduktion des Prager Nationaltheaters zwar nicht, psychisch gestört sind seine Figuren dennoch. Gewollt unnatürlich und verfremdet wirkt die Personenregie, mit geistig entrückten Personen, jede offenbar in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Und wenn Idamante kurz und gewaltvoll ihre Ilia küsst, so weiß man nicht so recht, ob das gerade wirklich passiert.

Der Soundtrack dazu kommt mit einer Klangdichte, wie man sie in Mozartopern heute kaum mehr gewohnt ist. Wenn so präzise und gleichermaßen anpackend wie dynamisch nuanciert musiziert wird, wie an jenem Abend das Orchester der Prager Staatsoper unter der Leitung von Konrad Junghänel, dann entfaltet das eine beglückende Wirkungsmacht. 

Auch Idamantes (Rebecka Wallroth) „Unterredung“ mit ihrem Vater Idomeneo (Evan LeRoy Johnson) spielt sich im Unterbewusstsein ab © Serghei Gherciu

Man spielt eine eigene Fassung auf Basis der Münchner Uraufführung im Jahr 1781. Damals sang ein Kastrat die Rolle des Königssohns Idamante, in der Prager Staatsoper steht nun die Mezzosopranistin Rebecka Wallroth als männlich gekleidete Lesbe auf der Bühne. Wallroth führt in der besuchten Aufführung eine bemerkenswert starke Besetzung mit einer farbenreichen, gut geführten Stimme an. Zarte, vibratolos gehaltene Töne meistert sie ebenso problemlos wie heftige Gefühlsausbrücke und die gesamte Bandbreite dazwischen. Die von Idamante begehrte, auf Kreta festgesetzte trojanische Prinzessin Ilia singt Jekatěrina Krovatěva mit einer klaren, druckvollen Stimme, die zunächst eher ins Dramatische zu neigen scheint, im Laufe der Aufführung aber zunehmend flexibel fließt. 

Dem Glück der beiden steht Kretas König Idomeneo im Weg, der bekanntlich meint, seinen Sohn bzw. hier seine Tochter Idamante dem Neptun opfern zu müssen. Evan LeRoy Johnson beeindruckt mit einer kraftvollen, eher dunkel timbrierten Tenorstimme, während seine Figur mit einem Aktenkoffer in der Hand eher an einen farblosen Versicherungsverkäufer denken lässt, als an einen Herrscher. Mit seinem Handkoffer wirkt er bei Bieito wie ein Versicherungsvertreter. 

Josef Moravec darf als Neptuns Hoheprister auch ein paar Zeilen des Arbace singen, den Mozart und sein Librettist Giambattista Varesco der Titelfigur als Vertrauten zur Seite gestellt haben. Dem Regisseur passte diese Figur offensichtlich nicht ins Konzept, er hat sie eliminiert. Weitere Streichungen umfassen u.a. die Ballette, dafür dürfen Wallroth und Krovatěva das Duett „S’io non moro a questi accenti“ (Sterbe ich nicht bei diesen Worten) aus der Wiener Fassung von 1786 singen.

Bieito zeigt die Dreierkonstellation Idamante-Ilia-Idomeneo als voneinander getrennte Seelenspiegelungen. Die Personen sind viel mit sich und ihren eigenen Problemen beschäftigt. Diesen Eindruck verstärken auf der ansonsten spärlichen Bühne sechs mobile Eckwände aus geripptem Plexiglas (solche, die man früher für Duschwände verwendet hat), die gleichsam die Seelenräume der Figuren visualisieren. Mal bedrängen, ja quetschen sie Idomeneo, mal lassen sie als Wand über die gesamte Bühnenbreite wenig Handlungsspielraum, was wohl die scheinbare Unentrinnbarkeit vor Neptun verdeutlichen soll. Gleichsam als innere Stimmen der Figuren dient der Chor (Chormeisterin: Zuzana Kalčíková), der sich zu Dämonen steigert, wenn sie dem von Gewissensbissen geplagten Idomeneo Schilder mit der Aufschrift „Vrah“ (Mörder) um den Hals hängen.

Elettra (liegend: Petra Alvarez Šimková) ist in dieser Inszenierung ein ferner Satellit, der um die Hauptfiguren kreist © Serghei Gherciu

Ebenso wie auf Arbace hätte Bieito konsequenterweise auf die Figur der Elettra verzichten müssen, denn mehr als einen fernen Satelliten, der um die drei Hauptfiguren kreist, bildet sie in dieser Inszenierung nicht. Das wäre freilich schade gewesen, denn Petra Alvarez Šimková füllt diese Figur stimmlich gut aus und berührt insbesondere in ihrer Arie „Idol mio, se ritroso“ (Mein Alles, wenn widerstrebend).

Am Ende, wenn der wunderbar sonor intonierte Bass von Zdeněk Plech als Deus-ex-machina erklingt, blickt Idomeneo einmal mehr in seinen geöffneten Koffer und dreht diesen schließlich zum Publikum. Wenn man darin nichts als Spiegeln sieht, dann ist klar: Neptun ist für Bieito gleichsam ein teuflisches Hirngespinst, dessen Überwindung jeder Mann und jede Frau selbst in der Hand hat. Der Mensch muss sich seine eigenen Fehler eingestehen, nur dann wird er seine Probleme – wie eben die Umweltverschmutzung – lösen können. Diese Deutung und nicht zuletzt die Spiegel werden einige im Publikum als anmaßend empfunden haben. Andere werden sie als Einladung zur Selbstreflektion nutzen.


«Idomeneo» – Wolfgang A. Mozart
Národní divadlo Praha (Prager Nationaltheater) · Státní opera (Staatsoper)

Kritik der Vorstellung am 4. Oktober
Termine: 10./12./18. Oktober

Als Koproduktion mit der Brüsseler Oper La Monnaie wird diese Inszenierung – in gänzlich anderer Besetzung – vom 10. bis 28. März 2026 ebendort gezeigt