Staatstheater Nürnberg
Viele Likes für eine Vollgas-Influencerin
Wo früher die Moral bestimmte, welche die richtigen Wege sind und welche die falschen, sind es heute die Abgründe der digitalen Welt, vor denen man aufpassen muss. Was passiert, wenn man abgestürzt ist? Ilaria Lanzino gibt in ihrer neuen Inszenierung von Verdis «La traviata» faszinierende Antwort
Stephan Schwarz-Peters • 09. Oktober 2025

Smartphones auf der Bühne verheißen nichts Gutes, sind meist nur die Übersetzung altgewordener Bühnenklischees in neue, einfallslose Requisiten aus der Fremdschämecke des Regietheaters. Als Illustrationshilfen hat man sie immer schnell zur Hand, wenn’s ansonsten an Ideen zur Aktualisierung der uns heut‘ ach so unverständlichen Opernvergangenheit mangelt; doch in Ilaria Lanzinos Nürnberger «Traviata», der ersten großen Musiktheaterpremiere der neuen Staatstheater-Saison, ist das anders. Hier steuert das Gerät – Durchbruch in der menschlichen Kommunikation, Quell nie für möglich gehaltener Massenneurosen – den Handlungsverlauf, führt Violetta Valéry, die weibliche Hauptfigur, auf jene Abwege, die der Titel suggeriert. Auf Violettas Partys (Bühne: Martin Hickmann, Kostüme: Carola Volles) etwa sorgt es mit seinen mindestens fünf eingebauten Hochleistungskameras für likenswerte Selfie-Content. Schnell noch ein paar Videos gemacht, wie sich der wildmaskierte Gästeschar champagnertrinkend und koksschnüffelnd durch die Nacht tanzt, schwupps hochgeladen, schon kann die ganze Welt mit Herzchen und hochgehaltenen Däumchen Anteil an dem vielen Lebensglück nehmen, das ihr auf allen Kanälen der postenden Rauschgesellschaft entgegenschwappt.
Doch es gibt auch üble Hinterlassenschaften in der digitalen Welt, und niemand weiß das besser als Violetta selbst. Denn in Lanzinos Inszenierung wurde sie einst zum Opfer einer Massenvergewaltigung, die neben dem Trauma sexualisierter Gewalterfahrung auch noch weitere Konsequenzen für ihr Leben nach sich zieht. Die Täter, eine Gruppe von Männern in Stiermasken (geschickte Anspielung übrigens auf den „Stierkämpferchor“ aus dem zweiten Akt), hatten das Verbrechen gefilmt und online gestellt. Vermeintlich stark genug, meint Violetta nun, das demütigende, von Tausenden Viewern beglotzte und noch immer durchs Netz geisternde Erlebnis durch konsequentes „Weiter so“ ihres Influencerinnen-Lebens zu überwinden. Doch in der erbarmungslosen Welt digitaler Dauerpräsenz gibt es weder für sie noch für ihr Umfeld ein Vergessen. Das merkt sie spätestens beim Eintritt in die Familie ihrer einzigen und aufrichtigen Liebe Alfredo, die Lanzino, in steriler Umgebung und mit ebensolchen Gesten, etwas holzschnittartig in den Gesamtrahmen ihrer Inszenierung einfügt. Doch das schmälert die Wirkung der auf klare Bilder gerichteten Produktion nicht.

Bei allen Bezügen zur digitalen Gegenwart unterscheiden sich die Mechanismen, die Violetta – von Verdi und seinem Vorlagenlieferanten Alexandre Dumas fils als Edelkurtisane mit Herz und Charakter gezeichnet – in den Abgrund stürzen, nicht allzu sehr von denen des 19. Jahrhunderts. Sobald ihre „Vergangenheit“ ans Licht kommt, wird sie verworfen; ob es wie damals aus Gründen der „Moral“ oder wie heute aus Gründen der „Untragbarkeit“ geschieht, ist letztendlich egal. Und so lässt sich auf der Staatstheaterbühne staunend nachvollziehen, wie sich der Text Francesco Maria Piaves und Verdis musikalische Deutung fast widerspruchslos mit Ilaria Lanzinos Geschichte verbinden lassen. Das liegt nicht zuletzt auch am scharfen Blick der italienischen Regisseurin für Details, mit denen sie die Handlung aber niemals überfrachtet. Selbst in den opulenten Szenen ist Ökonomie das erste Gebot, und nicht erst im intimen Aufeinandertreffen der Konfliktgemeinschaft Violetta, Alfredo und Papa Giorgio zeigt sich, wie hervorragend Lanzino die Personenführung auf der Bühne beherrscht und wie klug sie sich Verdis unschlagbarem Sinn für Dramaturgie anvertraut.
Bemerkenswert ist die Idee, die im dritten Akt auf ihrem Intensivstationsbett schon gar nicht mehr ansprechbare Violetta aus ihrem Körper heraustreten und wie eine Art Geist die letzten Augenblicke ihres Lebens von außen – und gerade deshalb vielleicht in so inniger Verbundenheit mit dem reumütig händchenhaltenden Alfredo – betrachten zu lassen: ohne Onlinefilter oder anderweitige digitale Manipulation. Bei allem, was sie zu erdulden und zu erleiden hatte, findet Violetta schließlich doch noch (glücklich) ins echte Leben zurück. Eine Stigmatisierte, aber keine Heilige, und das gibt diesem Finale die Möglichkeit, menschlich zu berühren – nicht weniger, als wenn sich Elisa Verzier, Zweitbesetzung nach der in der Premiere gefeierten Andromahi Raptis, auf der Bühne zu Tode gehustet hätte (eine Aufgabe, die Teile des Publikums in dieser erkältungsanfälligen Jahreszeit bereitwillig für sie übernahmen).

Die junge Sängerin scheint unabhängig von der Regie in gewisser Weise für die Rolle geschaffen zu sein. Gerade die für Violettas Charakter so wesentliche Eigenschaft der Zurücknahme scheint ihrer Natur zu entsprechen, zumindest bringt sie das glaubwürdig über die Rampe. Kleine Unsicherheiten in den Fiorituren verzeiht man ihr gern, eine Vollgaskurtisane würde man ihr angesichts des hellen, auf innere Rein- und Reinlichkeit hindeutenden Timbres ihrer Stimme ohnehin nicht abnehmen. Gleichwohl beherrscht sie, wie in der Abschiedsarie „Addio del passato“ im dritten Akt, auch den Druck auf die Tränendrüse; schade nur, dass sie an wichtigen Stellen mitunter vom hochgepegelten Orchesterklang übertönt wird. So erfreulich der straffe Zugriff des Dirigenten Björn Huestege auch sein mag, manchmal geht das Temperament mit ihm durch.
Nach Fenton, Nemorino und Edgardo in den letzten Jahren übernimmt der russische Tenor Sergei Nikolaev mit Alfredo seine nächste große italienische Partie am Nürnberger Haus. Er schlägt sich glänzend darin, allerdings weniger im Sinne metallische Trompetenbravour als durch das lyrische Gold seiner Stimme. Seine Arien sind fein gezeichnete Gefühlsentäußerungen, die vokalen Höhepunkte (wie’s ja auch sein soll) der Aufführung die intimen Duette zwischen ihm und seiner Partnerin. Und dann wäre noch Sangmin Lee zu nennen, den nicht nur die Farbe seines Anzugs zur Grauen Eminenz des Abends macht. Ein klangvoller, volumenreicher Bariton, dem das Bigotte der Partie völlig abzugehen scheint, der dafür mit großer Autorität und Authentizität Ausrufezeichen setzt – im Piano wohlgemerkt, das er in seinen solistischen Momenten kaum verlassen muss, um mit seiner Stimme dennoch den ganzen Raum zu fluten. Neben dem restlichen Solistenensemble mit Sara Šetar (Flora Bervoix), Laura Hilden (Annina), Kellan Dunlap (Gaston), Demian Matushevskyi (Baron Douphol), Wonyong Kang (Marquis de Obigny) und Nicolai Karnolsky (Doktor Grenvil) trägt der von Tarmo Vaask perfekt einstudierte Chor den letzten Schliff zu diesem gelungenen Nürnberger Spielzeitauftakt bei.
«La traviata» – Giuseppe Verdi
Staatstheater Nürnberg · Opernhaus
Kritik der Aufführung am 8. Oktober
Termine: 13./16./26. Oktober; 1./9./11./19./25./28./30. November
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