Opéra National de Lyon

Die Stufen der Macht aus der Sicht eines Kindes

Vasily Barkhatov fand für Mussorgskis «Boris Godunow» eine völlig neue Lesart, Vitali Alekseenok dirigiert das Werk mit großer Finesse

Paul Barrera-Strittmatter • 15. Oktober 2025

Für den ersten Teil (1. und 2. Akt) entwarfen Zinovy Margolin und Vasily Barkhatov treppenförmige Terrassen, die die Hirarchien der Macht symbolisieren © Jean-Louis Fernandez

«Boris Godunow» ist ein Werk der russischen „Grand Opéra“, allem voran durch das monumentale historische Tableau, das sich darin entfaltet. Zar Boris Godunow, ein Bassbariton an der Spitze des russischen Imperiums, leidet von Beginn an unter mangelnder politischer Legitimität. Er wird unaufhörlich der Usurpation des Throns beschuldigt, nachdem sich der blutige (nie wirklich bewiesene) Mord am Zarewitsch Dmitri, dem zweiten Sohn Iwans des Schrecklichen, in der Kathedrale von Uglitsch ereignet haben soll. Den Intrigen zahlreicher Bojaren ausgesetzt und insbesondere vom Fürst Wassili Iwanowitsch Schuiskis verfolgt, verfällt Boris Godunow allmählich dem Wahnsinn und der Paranoia. Er fürchtet um sein Leben, seine Macht und das Schicksal seiner Familie, mithin jenes seiner Tochter Xenia und seines einzigen Nachfolgers Fjodor. Parallel zu den gegen Boris Godunow gerichteten Verschwörungen, die sich in der Duma der Bojaren ausbreiten, bereitet der alte Mönch Pimen, die „Stimme der Geschichte“, die Wiederkehr des ermordeten Zarewitsch Dmitri vor, der in der Gestalt Grigori Otrepjews gleichsam wiederaufersteht. Auf der Suche nach Unterstützung in Litauen und Polen steigert dieser die Furcht und die Angst des Zaren. Die Fassung von 1869, die sich eng an Puschkins historisches Drama anlehnt, zeigt den langen Abstieg des Zaren in den Abgrund bis zu dessen Tod aus Erschöpfung und Angst.

Bei der Interpretation von «Boris Godunow» muss sich zwangsläufig jeder Dramaturg die Frage nach der zu wählenden Fassung stellen. Vasily Barkhatov und sein Team haben sich für die Originalfassung von 1869 entschieden und nicht für jene von 1872. Diese Entscheidung für die erste Fassung ist von entscheidender Bedeutung, denn sie steht für eine Perspektive, die dem Puschkin‘schen Drama treuer ist. Dieses Drama von 1825, das von Mussorgski leicht verändert und mit Ergänzungen sowie Anleihen beim Historiker Nikolai Karamsin aus dessen „Geschichte des Russischen Empiriums“ versehen wurde, konzentriert sich auf das Leben des Zaren Boris Godunow und unterscheidet sich kaum von der dramatischen Vorlage, sieht man einmal ab von einer stärkeren Darstellung des Volkes.

Die zweite Fassung von 1872 ist jene, die am 27. Januar 1874 im Mariinski-Theater in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde, nachdem das Theater Mussorgski gebeten hatte, sein Libretto zu überarbeiten und eine weibliche Figur einzufügen, die Figur der Marina Mnischek, die in den falschen Zaren Grigori Otrepjew, der Boris Godunow stürzen soll, verliebt ist. Diese zweite Fassung verlagert die Oper somit auf eine intimere und persönlichere Ebene, während die Fassung von 1869 ausschließlich auf den vier großen Säulen dieses historischen Dramas beruht: Religion, Volk, Macht und Individuum.

Die Zarenfamilie mit Fjodor (Iurii Iushkevich), Xenias Amme (Dora Jana Klarić), Fürst Wassili Schuiski (Sergey Polyakov), Xenia (Eva Langeland Gjerde) und Zar Boris Godunow (Dmitry Ulyanov) © Jean-Louis Fernandez

«Boris Godunow» wird in Russland sehr häufig auf traditionelle Weise aufgeführt. Diese große Oper neu zu erfinden und ihr durch eine Inszenierung neuen Atem einzuhauchen, ist deshalb kein leichtes Unterfangen. Genau das ist Vasily Barkhatov jedoch gelungen. Der erste Akt beginnt mit einer Szenografie, die an die aufgefächerten Räume im Film „Dogville“ von Lars von Trier erinnert. Tatsächlich haben Bühnenbildner Zinovy Margolin und Barkhatov einen Raum entworfen, der in verschiedene Strukturen und Ebenen unterteilt ist. Auf der Bühne befindet sich eine Art Treppe mit unterschiedlich gestalteten und hohen Plattformen, auf denen die Darsteller agieren. Dieses Bühnenbild ist das Ergebnis einer sehr präzisen dramaturgischen Überlegung, denn die verschiedenen Ebenen dieser Podeste symbolisieren die unterschiedlichen Sphären und Hierarchien der Macht: die Plattform der religiösen Macht mit dem alten Mönch Pimen, die Plattform der zaristischen Macht mit der Familie Boris Godunows, die Plattform der Bojarenmacht und schließlich das Volk, das sich auf allen anderen Ebenen befindet wie eine dunkle, bedrohliche Masse, die die Macht umringt und sie zugleich gefährdet.

Das Theater Barkhatovs zeichnet sich in der Tat als ein Theater der Einfalls- und der Vorstellungskraft aus. Er versteht es, Geschichten zu erzählen und vermag es, mit nur wenigen Requisiten eine dramaturgische Idee auszudrücken, etwa die Vorstellung von der Fragilität der Macht, wenn er den Zaren nicht mit einer goldenen Krone, sondern mit einem Hocker über dem Kopf krönen lässt. Damit erinnert er uns daran, dass auch die große Geschichte nichts weiter ist als „Bretter und ein Papiermond“, wie Bert Brecht die Faktizität des Theaters, aber auch der Welt in seinem Theaterstück „Trommeln in der Nacht“ ausdrückte.

Neben dieser sehr symbolischen und abstrakten Inszenierung steht eine äußerst bildhafte und fast kindliche Art des Theaters. Barkhatov scheint nämlich – mit Unterstützung von Olga Shaishmelashvili und ihren stark kontrastierenden Kostümen, die zwischen orthodoxem Sticharion, Kinderpyjama und dem Anzug eines Politikers wechseln – «Boris Godunow» aus der Perspektive des autistischen Sohnes des Zaren, Fjodor, inszeniert zu haben. In der Tat spielt der gesamte zweite Teil der Oper in einem Kinderparadies mit Rutsche, Bällebad und großem Spielparcours. Hier begegnet man wieder dem Barkhatov des «Grand Macabre» in Frankfurt von 2023 oder der «Turandot» in Neapel desselben Jahres – und damit einer gewissen Form visueller Überfülle, einer fast dekadenten Szenografie, die man diesmal jedoch nicht allzu streng beurteilen sollte. Es ist geradezu genial, etwa eine Duma von Bojaren im Politiker-Anzug auf einem Kinderspielplatz versammelt zu sehen, die über die Hinrichtung des falschen Zaren Dmitri mit grünen oder roten Bällen aus dem Bällebad abstimmt.

Diese Inszenierung macht sich über die Macht der „Großen“ lustig und stellt zugleich die Naivität des Kindes den großen historischen Bewegungen gegenüber. Schließlich liegt die Zukunft Russlands bereits in den Händen des jungen Fjodor, und Vasily Barkhatov hat, indem er die Oper ausgehend von der Autismus-Perspektive des Kindes inszeniert und diese in einer bedrückenden, in sich geschlossenen Bühnenarchitektur zum Ausdruck bringt, eine völlig neue Lesart dieses Werkes gefunden.

Das Bühnenbild des zweiten Teils (3. und 4. Akt) zeigt die Welt aus der Kindersicht des autistischen Zarensohns Fjodor © Jean-Louis Fernandez

Das Orchester der Opéra National de Lyon konnte sich erneut in einem Repertoire hervortun, das ihm ansonsten nicht sehr vertraut ist (zuletzt nahm es sich 2021 mit «Der goldene Hahn» von Rimski-Korsakov eines großen russischen Opernwerks an). Doch man muss dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Vitali Alekseenok, was Vitali Alekseenok gebührt: Er dirigiert diese Oper mit großer Finesse und ehrt, die bedeutenden Nuancen bei Mussorgski respektierend, die reiche Farbpalette des Komponisten, die von slawischen Harmonien und russischer Volksmusik bis hin zu dunkleren lyrischen Passagen und starken religiösen Tonalitäten reicht.

Der russische Bass Dmitry Ulyanov in der Hauptrolle erfüllt die Erwartungen und schafft es, in der tiefen Stimmlage den Schmerz und die Sorge des Zaren zu vermitteln. Besonders in der letzten Szene, in der Ostinati und Glockenspiel das Schicksal des Herrschers, der tot zu Boden fällt, besiegeln, zeigt er seine Stärke. Dennoch hätte man sich etwas mehr Paranoia sowohl im Spiel als auch in der Stimme gewünscht, besonders bei der Wiederkehr des Motivs des ermordeten Zarewitsches.

In der Rolle des Fjodor zeigt der Countertenor Iurii Iushkevich, dass er seine kristallklare Stimme perfekt an ein nicht-barockes Repertoire anpassen kann, und liefert erneut eine hervorragende Leistung ab. Die Mezzosopranistin Dora Jana Klarić, in der Rolle der Amme, meistert mit Präsenz die komplexe Partie in der ersten Szene des dritten Akts, begleitet von Xenia, der Tochter des Zaren, dargestellt von der vielversprechenden Sopranistin Eva Langeland Gjerde aus dem Lyon Opéra Studio.

Der Tenor Sergey Polyakov in der Rolle des Fürsten Schuiski ehrt die hinterhältige und heimtückische Dimension seiner Figur perfekt. Die Nuancen in Stimme und Auftreten zwischen den Szenen mit Boris Godunow und der Versammlungsszene mit den Bojaren hätten jedoch etwas stärker hervorgehoben werden können. Der falsche Zar Dmitri, mit seinem wahren Namen Grigori Otrepjev, dargestellt von Mihails Čuļpajevs, zeigt sich überzeugend, hätte jedoch mit sichererer Stimme und Auftreten zweifellos stärker gewirkt.

Am überzeugendsten tritt der exzellente Maxim Kuzmin-Karavaev als der alte Mönch Pimen auf, insbesondere durch seine starke Expressivität und den außergewöhnlichen Klang seiner Stimme. Schließlich vermochte der Bariton Alexander De Jong in der Rolle des Andrei Schtschelkalow erneut zeigen, dass er bedeutende Rollen übernehmen kann, und überzeugte insbesondere in seiner Ansprache an das Volk im ersten Akt.

Kritischer gesehen werden muss hingegen der Bass Hugo Santos in der Rolle des Nikititsch, der den Eindruck erweckt, die Stimme zu erzwingen, und die von der Figur gewünschten Nuancen nicht immer zu erreichen vermag. Die Mezzosopranistin Jenny Anne Flory interpretiert die Rolle der Schenkwirtin brillant, und die sehr sanfte und klare Stimme des Tenors Filip Varik in der Rolle des Narren ist mitunter von betörender Schönheit. Er begleitet David Leigh in den burlesken Rollen der betrunkenen Mönche Varlaam und Missail, was dem amerikanischen Bass einen wohlverdienten, großzügigen Applaus einbrachte. 
 

«Boris Godunow» – Modest P. Mussorgski
Opéra National de Lyon · Opéra Nouvel (Opéra de Lyon, Grand Théâtre)

Kritik der Premiere am 13. Oktober
Termine: 15./17./19./21./23./25. Oktober