Neue Oper Wien

Eine Diva wählt den Tod

In Manfred Trojahns «Eurydice»-Oper bleibt die Musik stets im Schwebezustand. Trotz hervorragender Leistungen vermag sie allerdings wenig zu berühren

Stephan Burianek • 17. Oktober 2025

Pluton (Christoph Gerhardus, Mitte) erinnert Eurydike (Laure-Catherine Beyers) an frühere Liebhaber, Orphée (Martin Achrainer) verfolgt das Geschehen ungläubig © Armin Bardel

Es gibt Abende, die sind seltsam, und man weiß nicht warum. Die österreichische Erstaufführung der Oper «Eurydice – Die Liebenden, blind» von Manfred Trojahn war so ein Abend, zumindest für den Autor. Wenn einer der bekanntesten Komponisten der Gegenwart eine neue Oper schreibt, dann sind die Erwartungen freilich hoch. Und tatsächlich enttäuscht die Musik des vor dreieinhalb Jahren in Amsterdam uraufgeführten Werks nicht. Im groß besetzten, zumeist transparent eingesetzten und von Walter Kobéra umsichtig geleiteten Tonkünstler-Orchester Niederösterreich flimmert, trillert und schimmert es, da brummt und summt es, da wird auf tonale und gottlob analoge Weise gleichermaßen kommentiert wie konterkariert. In diesem – man darf das bereits sagen – Spätwerk vereint Trojahn die Tonsprachen und -farben seines Lebens. 

Zugleich bleibt die Musik in dieser «Eurydice» stets in einer Art Schwebezustand. Auch das macht Sinn, denn sie spielt durchgängig in einer Anderswelt. Zunächst scheint sich die modern als Schauspielerin interpretierte Heldin der griechischen Mythologie in einem traumhaften Zwischenzustand zu befinden – noch nicht tot, aber auf dem Weg zur anderen Seite. Mit der klassischen Figur hat Trojahns Eurydice nur wenig zu tun, zumal sie auf mehrere enttäuschende Beziehungen mit Männern zurückblickt. Immer wollte sie eine bewunderte Königin sein, nie machte man(n) ihr diese Freude. Also besteigt sie den Zug in die Unterwelt freiwillig. Laure-Catherine Beyers singt und spielt die Eurydice kraftvoll und mit einer Portion Selbstironie. Beim Wahl-Franzosen Trojahn, der das Libretto unter Verwendung von Gedichten aus Rainer Maria Rilkes „Die Sonette an Orpheus“ selbst geschrieben hat, tragen die Figuren französische Namen („Es ist eine Oper, die in der falschen Sprache spielt", sagt Trojahn dazu in einem Podcast der Neuen Oper Wien).

Lena Belkina findet als Proserpine Gefallen an Orphée (Martin Achrainer) © Armin Bardel

Den virtuosen Sprechgesang, der das Werk stetig durchfließt, beginnt Martin Achrainer als Orphée, dessen Baritonstimme besonders in der Tiefe wunderbar kernig klingt. Seine Figur hat an Eurydice Gefallen gefunden und möchte sie für das (Über-)Leben retten. Anders als im Mythos betört Orphée mit seiner Stimme nicht die Götter der Unterwelt, sondern die sterbende Eurydice, die sich kurzzeitig gar nicht mehr so sicher ist, ob sie wirklich sterben möchte.

Es gibt also keine böse Schlange, dafür drückte die Regisseurin Juana Inés Cano Rstrepo der Titelfigur einen Apfel in die Hand – und rückt das mythische Paar in die Nähe der biblischen Urmenschen Adam und Eva. Orphée und Eurydice stehen demnach für ein vermeintliches Grundproblem zwischen Mann und Frau bzw. zwischen Liebenden generell. Diesbezügliche Fragen könnten lauten: Wie viel Nähe und wie viel Liebe ertragen wir, und wie viel sind wir bereit zu geben bzw. für den anderen aufzugeben?

Pluton, bekanntlich Herrscher der Unterwelt, schlüpft in mehrere Männerfiguren aus Eurydices Vergangenheit, vielleicht um sie im Moment des Zweifels an die Enttäuschungen in ihrem irdischen Leben zu erinnern. Zugleich wird offenbar, das Eurydice in ihrem unsteten Leben ebenfalls enttäuscht hat. Christoph Gerhardus wechselt überzeugend in die Rollen des Schaffners, des Kellners und des Dichters, in denen Eurydice ehemalige Liebhaber erkennt. Im Wiener Museumsquartier könnte man verstehen, wenn sich Eurydice auch in seine Stimme verliebte. 

Zugleich findet Plutons unzufriedene Gattin Proserpine Gefallen am leidenschaftlichen Orphée – und bildet als Königin, die sich nach der Welt der Lebenden sehnt, gleichsam das Spiegelbild zu Eurydice. Schade, dass Lena Belkina in dieser Rolle relativ wenig zu singen hat. Körperlich präsent ist sie in der Wiener Inszenierung bereits im ersten von drei Akten, wenn sie in monströsem Kleid gleichsam als Todesahnung zu unruhigen, unheimlichen, tiefen Streichern an der Sterbenden vorbeischreitet.

Am Ende darf sich Eurydice (Laure-Catherine Beyers) bei Pluton (Christoph Gerhardus) als Königin fühlen © Armin Bardel

Acht „Madrigalsänger“ des Wiener Kammerchores bereiten Eurydice einen schrägen Begrüßungsempfang. Für ihre in Schwarz und Weiß gehaltenen Kostüme hat sich Trojahns Ehefrau Dietlind Konold, die auch ein schlichtes Bühnenbild mit Schiebetüren entworfen hat, bei der Figur des Pierrot und weiteren Repräsentanten der französischen Kunst-, Mode- und Politikgeschichte inspirieren lassen.

Im letzten Akt ist Eurydice eine von ihnen, ein Geist, der sich als Geliebte Platons nun endlich als Königin fühlen kann. An Orphée, dem sie trotz ihrer anfänglichen Zuneigung kein Bindungsversprechen geben wollte, hat sie ihr Interesse verloren, ja, erkennt ihn nicht einmal mehr – bis sie erneut von seiner Stimme angezogen wird. Orphée versucht unter der aus der Mythologie bekannten Voraussetzung, sie auf dem Weg nach oben nicht anzublicken, seine Liebe ins Leben zurückzuführen. Er scheitert, weil sie sich letzten Endes für den Tod entscheidet und ihn wider besserem Wissen zu einem Kuss auffordert. 

Ob es bloß am persönlichen Unverständnis des Autors für die Orientierungslosigkeit einer selbstzentrierten Person liegen mag oder ob es die Parteinahme des Werks für einen Selbstmord ist, die bei ihm auf wenig Empathie stößt: Wenn Eurydices Schlussmonolog nach zwei pausenlosen Stunden verklingt, ist das das Ende eines vordergründig schönen Werks, das sich an jenem Abend ungeachtet der hervorragenden Leistungen wie ein Wiener Strudelteig gezogen hat. Matter Premierenapplaus.

 

«Eurydice – Die Liebenden, blind» – Manfred Trojahn
Neue Oper Wien · Museumsquartier / Halle E

Kritik der Premiere am 16. Oktober
Termine: 18./21./22. Oktober


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