Nova Opera Ukraine

Ein farbenreicher Fluss der Liebe

In Maxim Shalygins kraftvoller Kammeroper «Amandante» trifft Philip Glass auf Georges Bizet – und Philosophen auf Frauen und „einfache“ Leute

Stephan Burianek • 21. Oktober 2025


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Das ukrainische Sängerensemble der Nova Opera Ukraine während einer Aufführung von «Amandante» in der Augustinerkirche in Zürich © Roman Ohem

Wer für zehn Euro das Libretto gekauft hatte, war im Vorteil. Denn die vier ukrainischen Sänger – zwei Sopranistinnen und zwei Baritone – tönten bei ihrem Konzert im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins zwar klangschön, aber wortdeutlich waren sie nicht. Einen Genuss bereiteten sie gemeinsam mit dem Mriya-Orchester unter Mikheil Menabde dennoch, denn die Partitur von Maxim Shalygins englischsprachiger Kammeroper «Adamante» wirkt wie eine Flussfahrt entlang einer abwechslungsreichen Landschaft. 

Die Reise beginnt meditativ wie der Blick auf einen großen, weiten See, und doch auch angespannt, mit einem repetitiven Muster am Klavier, das die vier Sänger aufgreifen und das von einer der Sopranistinnen bald mit einem ariosen Bogen überspannt wird. Nicht nur an dieser Stelle klingt das Gesangsquartett wie ein zusätzliches Musikinstrument, als Ausdruck einer inneren Stimmung. Ein Gedanke an Wagners «Tristan und Isolde» wird in diesem Zusammenhang kurz wach, ein weiterer an die „minimalistischen“ Opern von Philip Glass wird im Laufe der folgenden anderthalb Stunden bleiben. 

Die Partitur steht in einem ungewöhnlichen Verhältnis zum Libretto von Paul van der Woerd, der seine Inspiration aus Platons „Symposion“ gezogen hat. Für jene, die diesen antiken Klassiker gerade nicht parat haben: In Dialogform schildert Platon darin eine wohl fiktive Zusammenkunft im Hause des Tragödiendichters Agathon im Athen des Jahres 416 v.Chr., um dessen Gewinn bei einem Dramenwettbewerb zu feiern. Der Gastgeber und seine sechs geladenen Gäste, darunter Sophokles und Aristophanes, philosophieren über unterschiedliche Formen des Eros. Seither kennt man die Liebe ohne Geschlechtsakt als „platonisch“, außerdem wird bei der Lektüre u.a. evident, dass die gleichgeschlechtliche Liebe seinerzeit als selbstverständlich angesehen wurde. 

Maxim Shalygin mit einem Zeichen der Anerkennung während des Musikfestivals von Cosmo Kultur in Zürich im Oktober 2025 © Roman Ohem

Der Operntext folgt aber weniger dem Platon’schen Austausch, sondern beleuchtet vielmehr das Umfeld dieses Ereignisses. Das vierköpfige Sängerensemble leiht insgesamt dreizehn Figuren ihre Stimmen, darunter der Frau des Agathon, die besagtes Festessen vorbereitet und die Oper eröffnet. Wenn der Weinhändler eintritt, dann wechselt der erstklassige Antonii Baryshevskyi am Klavier in einen schwerfälligen Walzerschritt, der mit einer orientalisch klingenden, beschwingten Melodie changiert. Eine Flötenspielerin folgt, erkennbar an der extrem hohen Tessitura ihres Gesangs. Sie wird an jenem Abend von der Festgesellschaft, die ungestört bleiben möchte, vor die Tür gesetzt werden.

Während sich bei Platon nur als weise anerkannte Männer über Liebe und Erotik austauschen dürfen, kommen in Woerds amüsantem Libretto vor allem Frauen und vermeintlich „einfache“ Menschen zu Wort. Agathons Gattin scheint mit ihrem Mann nicht zufrieden zu sein: „My dearest husband’s main philosophy / is sheer debauchery. Humanity, / I bet, will longer keep / his habits than his plays” (Die Hauptphilosophie meines liebsten Mannes ist schiere Ausschweifung. Die Menschheit, da bin ich mir sicher, wird seine Gewohnheiten länger bewahren als seine Theaterstücke). Und der Weinhändler gibt die folgende Weisheit von sich: „The best activity / to help diversity / is promiscuity.“ (Die beste Aktivität, um Vielfalt zu fördern, ist Promiskuität).

Shalygins stets tonale Musik in diesem gleichermaßen kraftvollen wie zärtlichen Werk ist farbenreich und erzeugt immer wieder einen rhythmischen Sog und Schwebezustände. Shalygin scheut sich glücklicherweise nicht – ganz unakademisch – vor reizvollen Melodien und eingängigen Motiven. An einer Stelle, in der Agathons Ehefrau und die Flötenspielerin zart und melancholisch über ihre gesellschaftlich reduzierte Rolle als Frau klagen, erinnern nicht nur die von einer Sängerin gespielten Kastagnetten an die Bizet-Oper «Carmen». Auch die zwar dezent im Hintergrund gehaltene, aber dennoch unverkennbare Basslinie der „Habanera“ zieht eine Parallele zu einem männlich geprägten Frauenbild, das sich im Laufe der Menschheitsgeschichte kaum geändert hat – und mündet mit einer Glass’schen Repetition der Wörter „Fuck“ und „you“ – das alles ist, so eigenartig das jetzt klingen mag, vordergründig schön komponiert. Die Oper endet selbstironisch und abrupt, ganz so, als sei ihr Fazit über die Liebe: „Nichts genaues weiß man nicht“. 

Die Sänger im Tanz mit Dirigent Mikheil Menabde während der Uraufführung im Amsterdamer Muziekgebouw im vergangenen Jahr © Foppe Schut

Im Wiener Musikverein sangen Maryana Golovko, Anna Kirsh, Andrii Koshman und Ruslan Kirsh im Rahmen einer kleinen Europa-Tour ohne elektronische Verstärkung, was einen Klang von großer Unmittelbarkeit erzeugte, der sich von der inszenierten Uraufführung vor einem Jahr in Amsterdam, wo diese Sänger noch mit Microports aufgetreten waren, unterschied. Damals hatte die Regisseurin Aïda Gabriëls dem musikalischen Charakter des Werks – das sich auch in seinem Titel als Wortkombination von „Amor“ (Liebe) und „Andante“ (Vorwärtsschreiten) widerspiegelt – insoweit Rechnung getragen, als dass sie das Sängerensemble in neutrale Kostüme steckte und wie bei einer intimen Gruppentherapiesitzung auf einer leeren Bühne um ein Sofa herum gruppierte. 

Eigentlich hätte die Uraufführung bereits zwei Jahre davor in Kyjiw stattfinden sollen, doch dann hatten Putin und seine Gang ihren imperialistischen Größenwahn nicht mehr unter Kontrolle – und die Produktion musste abgesagt werden. Es wird letztlich aber nur eine Verschiebung gewesen sein: Im Dezember ist in der ukrainischen Hauptstadt eine Aufführung dieser Oper geplant. Es bleibt zu hoffen, dass nicht zuletzt aufgrund der konzertanten Tournee, die neben Wien auch Berlin und Zürich beinhaltete, weitere Dramaturgen und Intendanten auf dieses Werk aufmerksam geworden sind. Unabhängig davon wurde einmal mehr klar, wie viel die Ukraine kulturell zu bieten hat – Europa braucht nur zuzugreifen. Wie der Kritikerkollege in der ersten Reihe während dieser mitreißenden Oper einschlafen konnte, wird ein Rätsel bleiben.


«Amandante» – Maxim Shalygin
Nova Opera Ukraine · Musikverein / Gläserner Saal

Die Kritik basiert auf einer Aufführung am 12. Oktober
Termin: 20. Dezember (Philharmonic Hall, Kyjiw)