Staatstheater Mainz

Totenbleiche Gluten

Regisseurin Angela Denoke reduziert Korngolds erfolgreichste Oper auf das Wesentliche. Der neue GMD Gabriel Venzago zeichnet das düstere Seelenleben des Protagonisten in schwelgerischen Tönen nach

Daniela Klotz • 21. Oktober 2025

Gleicht Marietta wirklich Pauls verstorbener Gattin Marie? Man weiß es nicht © Andreas Etter

„Dich such ich, Bild! Mit dir hab ich zu reden.“ – Marietta, die lebens- und liebesbegierige Tänzerin ist aufgebracht. Ihr Verehrer Paul liebt gar nicht sie, sondern in ihr seine verstorbene Gattin. Die beiden gleichen sich aufs Haar. Die Frage ist: Ist Marietta Wirklichkeit oder ein Phantasiegebilde Pauls? Der Witwer kann von seiner geliebten Toten, seiner goldhaarigen Gattin Marie nicht lassen. Seine Trauer um die zu früh verschiedene hat ihn nach Brügge gebracht, die „tote Stadt“, die ihm als Ebenbild seines Seins erscheint. Eben hier ist er jedoch auf Marietta getroffen, dem Ebenbild Maries und Inbegriff des Lebens. In ihr liebt er seine tote Marie, alsbald in der toten Marie die lebende Marietta. Er, der sie erst das wahre Lieben lehrte, zerstörte sie, bekennt Marietta und stellt sich der Konfrontation mit eben diesem Bild der Toten, der sie so sehr gleicht. 

Mit Nadja Stefanoff und Corby Welch haben sich im Ohrwurm-tauglichen Duett der zweiten Strophe von Mariettas Lied „Glück, das mir verblieb“ zwei Stimmen gesucht und gefunden. Sie, die mit ihrem schönen warmen Timbre die beiden so unterschiedlichen Figuren Marietta und Marie differenziert verkörpert und auch als laszive Tänzerin quasi im Handumdrehen überzeugt. Er, dessen ersten Tönen man schon anmerkt, welcher Heldentenor hier im Werden begriffen ist und der auch in tiefen Lagen mühelos über dem Orchester liegt. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz wird vom neuen Generalmusikdirektor Gabriel Venzago mit Leichtigkeit und Verve durch die Nuancen der Partitur geführt. Es ist neben allem anderen viel Wagner im jungen Korngold, doch konzentriert sich in diesem Fall die Musik ausschließlich auf das Innenleben der Protagonisten. Nichts läuft hier parallel. Die jähen Stimmungsumschwünge sind sozusagen aus dem Leben gegriffen, das Publikum nimmt dank Venzago Teil an den Irrungen und Wirrungen dieser Liebe zwischen Dies- und Jenseits. 

Zu dieser bemerkenswerten Dramatik muss gesagt werden, dass Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) ein musikalisches Wunderkind war und der zweite Sohn von Julius Korngold, der als Nachfolger von Eduard Hanslick dreißig Jahre lang der einflussreichste (und stockkonservative) Wiener Musikkritiker war. Ob das Erstlingswerk des dreizehnjährigen Komponisten, die Ballett-Pantomime «Der Schneemann», 1910 auch an der Wiener Hofoper uraufgeführt worden wäre, hätte er nicht Korngold geheißen? Karl Kraus, dem der Hype um „den kleinen Korngold“ gewaltig auf die Nerven ging, war vom Gegenteil überzeugt; er schrieb 1913: „Es ist begreiflich, dass ein solcher Vater die Menschen einteilt in solche, die den Sohn für ein Genie, und in solche, die ihn bloß für ein Wunderkind halten. Jene schätzt er, diese verschmäht er“, und mit dem Starkritiker will es sich natürlich niemand verderben.

Mit Nadja Stefanoff (Marietta) und Corby Welch (Paul) haben sich zwei Stimmen gesucht und gefunden © Andreas Etter

Dazu ist wiederum zu sagen, dass Korngolds erste Opern, die Einakter «Violanta» und «Der Ring des Polykrates», die 1916 gemeinsam in München uraufgeführt wurden, im deutschen Sprachraum und darüber hinaus beachtlichen Erfolg hatten und häufig nachgespielt wurden. Seine dritte Oper, «Die tote Stadt», feierte am 4. Dezember 1920 eine Doppelpremiere in Hamburg und München und wurde schnell an mehr als dreißig Bühnen im In- und Ausland nachgespielt. Während seit den 1920er Jahren die Neue Sachlichkeit (zunächst eine Stilrichtung der bildenden Kunst) auch die Musik Hindemiths, Schulhoffs oder Křeneks beeinflusste, stand Korngolds Gesamtwerk bis zuletzt in der Tradition der Spätromantik. Die „ästhetischen und stilistischen Umwälzungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (Arne Stollberg) verdrängten auch «Die tote Stadt» von den Spielplänen, erst seit den 1970er Jahren wurde sie wiederentdeckt und ist seither berechtigterweise sehr häufig auf den Spielplänen zu finden.

Das Libretto stammt von Vater und Sohn Korngold. Unter dem Pseudonym Paul Schott (Paul nach der Hauptfigur, Schott nach dem Verleger) verarbeiteten sie Georges Rodenbachs Theaterstück „Le Mirage“ (Das Trugbild), die Bühnenbearbeitung seines Romans „Bruges-la-Morte“ (Das tote Brügge). Die Geschichte vom Trauernden, der in der Welt zwischen Dies- und Jenseits feststeckt und sich nicht zu befreien weiß. 

Bei Rodenbach ist der Mord an der Tänzerin Marietta Realität. Unter dem Einfluss der Traumtheorie Sigmund Freuds hat Korngold das Verbrechen zu einer Halluzination, einem Albtraum Pauls umgedeutet: Indem er sich symbolisch von dem Ebenbild seiner über alles geliebten Frau befreit, überwindet er die Schockstarre, in die ihn Maries Tod versetzt hat (als Titel der Oper war zunächst „Triumph des Lebens“ vorgesehen). Entsprechend finden in Mainz Pauls Seelenqualen auch ein „glückliches“ Ende. Weil er im Leben nicht mit ihr vereint sein kann, „versucht“ er sich am Weggehen aus der toten Stadt. Die Versuchung ist hier der Tod. Die treue Magd Brigitta gibt Paul diesen Tod mit dem Schal der geliebten Marie. Die eigentlich recht kleine Rolle der Haushälterin ist mit Karina Repova luxusbesetzt: Ihre sehr schöne, warme Altstimme korrespondiert aufs Beste mit ihrer Art, die Ergebenheit der treuen Dienerin umzudeuten zu Liebe geben Wollenden und Tod geben Könnenden. Umgekehrt ist Brett Carter in der Doppelrolle des Frank und des Pierrot der, der geben will aber nehmen muss. Sein „Mein Sehnen, mein Wähnen“ ist nicht ohne Grund das Pendant zu Mariettas Lied „Glück, das mir verblieb“. „Mein Sehnen, mein Wähnen, es träumt sich zurück, im Tanze gewann ich, verlor ich mein Glück“, lauten die ersten Zeilen. Wieso nur würgte Paul schon bei der ersten Begegnung Marietta mit dem Schal Maries? Sind wir hier noch bei den Korngolds oder doch bei Schnitzlers „Traumnovelle“? 
 

Auch die treue Magd Brigitta (Karina Repova) schwankt zwischen den Gefühlswelten. Macht sie Frank (Brett Carter, links) Avancen, um Paul (Corby Welch, rechts) zu bekommen? © Andreas Etter

Der Sopranistin Angela Denoke, die seit 2021 auch Regie führt, gelingt in Mainz eine ungemein intensive Ausdeutung der symbolistisch basierten, zwischen allen Musikstilen der Jahrhundertwende schillernden Oper Korngolds. Dass Georges Rodenbach Brügge als „tote“ Stadt bezeichnet, verweist einerseits auf provinzielle Enge und Stillstand, andererseits auf die Bigotterie der überwiegend katholischen Bevölkerung: wenn Marietta sich während der Prozession aus dem Fenster lehnen will, hält Paul sie zurück: „Man darf sie hier nicht sehn“. Timo Dentler und Okarina Peter legen in ihrem wandelbaren Einheitsbühnenbild den Akzent auf diese Enge, spiegeln die tote Stadt ebenso wie das Seelenleben des Protagonisten. Geistergleiche Bühnenhelfer schieben auf der Drehbühne drei unterschiedlich große (bzw. kleine) Häuser mit Satteldächern aus- und umeinander. Ein verwinkelter Bau, hinter dessen Ecken überall Geister lauern und hervortreten. 

Keiner der Räume ist möbliert, auch Pauls „Kirche des Gewesenen“ nicht: Das Bild Maries, das Marietta herunterreißt, ist eine Art Poster an der Wand. Sie hat recht, es ist „ein Grab“ – aber nicht „geschmückt mit Blumen“. Die „Rosen und Levkojen“, die Paul nach der Begegnung mit Marietta überall verteilt hat, gibt es nicht, die Gluten der der Lebenden zugedachten roten Rosen sind totenbleich. Auch das „gespenstig Traumbild“ der Prozession, die im dritten Bild im Hintergrund vorbeizieht, das „flutend Meer von goldnen Meßgewändern“ und den Bischof, der den „goldnen Schrein“ trägt, sehen wir so nicht, sie gerinnt in Pauls Vorstellung zum düsteren Maskenball der Seelen, die die reinen, goldgelockten (!) Kindlein ebenso malträtieren wie Pauls Seele. Selten waren Diskrepanzen zwischen Textvorgabe und -ausdeutung so sprechend und harmonisch umgesetzt. 
 

Text-Mitarbeit: Daniela Klotz


«Die tote Stadt» – Erich Wolfgang Korngold
Staatstheater Mainz · Großes Haus 

Kritik der Premiere am 18. Oktober 
Termine: 26. Oktober; 1./17./23. November; 12./17. Dezember