Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Ein fataler Kreislauf

Kilian Bohnensack verbindet auf der Wiesbadener Studiobühne zwei Anfänge bzw. Enden der Musikgeschichte zu einem ebenso kurzen wie einprägsamen Opernabend voll großer Gefühle und Banalität

Daniela Klotz • 25. Oktober 2025

Ben (Jack Lee) hat Lucy (Inna Fedorii) etwas Wichtiges zu sagen, ehe er einrücken muss © Laura Nickel

Im geblümten Pettycoat verhandelt Lucy am Telefon die Banalitäten des Lebens voller Dramatik ohne auf ihren Liebsten zu achten. In blutiger Rüstung (Kostüme: Florian Buder) erliegt Clorinda unerkannt den Schwerthieben ihres Liebsten, weil das Leben im Krieg zur Banalität wird. – Mit Gian Carlo Menottis einaktiger Opera buffa «The Telephone, or L'amour à trois» (Das Telefon oder Die Liebe zu dritt) und Claudio Monteverdis Madrigal, oder besser „genere rappresentativo“ (darstellendem Genre) «Il combattimento di Tancredi e Clorinda» hat Regisseur Kilian Bohnensack zwei extrem kurze Einakter auf die Wiesbadener Studiobühne gebracht. Sie sind Opern und doch keine, sie hängen inhaltlich und musikalisch zusammenhängen und sind doch komplett konträr. Man könnte auch sagen: die musikalisch zwei Anfänge oder zwei Enden verhandeln und mit musikalischen Mitteln die Erzählung zum Drama erheben und das Drama zur Erzählung. 

Wo soll man anfangen, diesen Miniatur-Opernabend auf einen Nenner zu bringen? Am besten mit dem Inhalt. In «The Telephone» will Ben seiner Lucy unbedingt etwas Wichtiges sagen. Er hat kaum Zeit, weil sein Zug bald geht. Zum Militärdienst? Zur Front? Doch Lucy bekommt am Stück Anrufe und muss dann auch noch selbst ihre Freundin Pamela anrufen, weil ein gewisser George ihr vorgeworfen hat, Gerüchte über ihn verbreitet zu haben. Bei diesem Gespräch läuft Inna Fedorii zu Hochform auf. Es ist so etwas wie eine Miniaturarie, die jedoch jede anständige Arie konterkariert. Denn natürlich hat Lucy sich verplappert und erzählt, was ihr erzählt wurde und natürlich hat George recht, muss aber zumindest unter Freundinnen ins Unrecht gesetzt werden, damit die Welt wieder in Ordnung ist. 

Nichts mit „vissi d’arte“ und Co – so viel schöne Töne für so viel Begrenztheit. Es ist, völlig ohne Ironie, kein Wunder, dass Menotti mit solchen pointierten gegenwartsbezogenen Handlungen und seiner traditionalistisch-harmonischen Tonsprache das Musiktheater revolutionierte, es für Boulevard, Broadway, Film öffnete und ein breiteres Publikum begeisterte. Irgendwie tut es André Rieu ihm nach. Dazu, dass Monteverdi es ihm vorgetan hat, kommen wir später. Denn noch fehlt der Geschichte die Pointe. Ben, dem Jack Lee seinen runden Bariton leiht, verzweifelt. Kleine Duette zeugen von der inneren Harmonie des Paares. Doch der arme Ben kommt erst zum Zug, als er, schon auf dem Weg zum Zug, Lucy anruft. Jetzt endlich kann er seinen Antrag vorbringen. Lucy nimmt mit Freuden an, mahnt ihn aber, ja nicht ihre Telefonnummer zu vergessen. Der vermaledeite Kasten, der nicht umzubringen ist, wird der dritte Partner in der Ehe, schwant es Ben. Doch ohne Frage bekommen Lucy, Ben und das Telefon das hin, zu harmonisch sind die Töne im Schlussduett, zu nett hat Bohnensack das Paar ins Hörerkabel verwickelt.

Tancredi (Irina Fedorii, links) weiß nicht, dass der Feind, den er tödlich verwundet, seine Geliebte Clorinda (Josefine Mindus, rechts) ist. In der Mitte Jack Lee als Erzähler Testo © Laura Nickel

In die letzten Töne der Klavierbegleitung durch Tim Hawken, der zugleich der musikalische Leiter des Abends ist, und Adam Rogala mischt sich eine immer brachialer werdende, mit akustischen Effekten versehene, hinzukomponierte Umbaumusik (Sounddesign: Felix Nyncke). Wie von Geisterhand werden die reduzierten Raumgestelle, die Ella Hölldampf für den Abend geschaffen und beleuchtet hat, entkleidet. Im Hintergrund nimmt die Handvoll Musiker Platz, die Monteverdis «Il combattimento» in Szene setzen wird, den Kampf zweier Liebenden, der mit Menottis Werk so gar nichts und doch so viel zu tun hat.

Inna Fedorii trifft hier als Tancredi auf, Josefine Mindus als Clorinda. Heimlich sind sie laut Torquato Tassos Textvorlage „Gerusalemme liberata“ ein Liebespaar, doch auf dem Schlachtfeld erkennen sie sich nicht. Jack Lee als Testo, also als Erzähler und Zeuge, berichtet mit gleicher Inbrunst wie vordem Lucy am Telefon vom Geschehen. Vom wütenden, brutalen, ja mit allen Mitteln geführten Kampf, den Tancredi und Clorinda sich liefern, vom Sieg Tancredis und davon, dass der, sobald er erkennt, wenn er da im Furor getötet hat, jeden Tropfen Bluts mit einem Meer von Tränen bezahlen wird. Von Tancredi kommen dazu nur ein paar wenige gesungene Worte, von Clorinda am Ende noch das Begehren nach der Taufe.

Im wahren Schrecken steht die Welt eben still wie im Auge des Orkans. Entsprechend werden auch die Kampfhandlungen zu sich wiederholenden Ritualen. Die Schwerter braucht es dazu nicht, sie hat Monteverdi in die Musik komponiert. Das war seine große Neuerung, mit der er das Publikum Berichten zufolge zu Tränen rührte. Detailliert folgt die Musik dem Text des Erzählers, gibt vom Klingen der Schwerter über das Rossegetrappel bis zum Plätschern des Quells, aus dem Tancredi das Taufwasser schöpft, die Stimmungen wieder. Um den richtigen Ton zu treffen, „erfand“ Monteverdi sogar etwas wie Pizzicato (eine noch eher brachiale Anordnung, wie die Saiten mit den Fingern zu zupfen seien) und ein rudimentäres Tremolo (eine schnelle Wiederholung eines Tones, der sich die Musiker widersetzten, weswegen Monteverdi mit Nachdruck auf dieser Technik bestehen musste).

Gleich Menottis Arbeit ist auch Monteverdis nicht leicht einzuordnen. Anfang oder Ende? Oder umgekehrt? Anpassung an den Zeitgeschmack oder Effekthascherei? Letzteres warf man zumindest Menotti vor. Für beide Werke mag wohl beides gelten. Was Komödie und Tragödie an diesem Abend verbindet, geht tiefer. Ben zieht aller Wahrscheinlichkeit nach in den Krieg und das mit einer gewissen Naivität. Tancredi trifft im Krieg auf einen starken Gegner und das mit einer blinden Abgestumpftheit. Damit ist Ben der Vorläufer Tancredis (Menotti kommt in dieser Produktion auch vor dem Monteverdi), und das Publikum, dem Kilian Bohnensack im Programmfolder entsprechende Erläuterungen seiner Arbeit mitgibt, muss in dieser knappen Stunde den ewigen Kreislauf der Geschichte erkennen: „Jeder Krieg wird im Frieden vorbereitet und jeder Frieden ist Folge eines Krieges“, zitiert Bohnensack in seinem kurzen Beitrag „Die Banalität der Gewalt“ aus Ole Nymoens Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“. In der Götterdämmerung würde das Schicksalsseil jetzt, an den Enden verknüpft, zum ewig sich drehenden Rad. 


«The Telephone» (Das Telefon) – Gian Carlo Menotti 
«Il combattimento di Tancredi e Clorinda» (Der Kampf zwischen Tancredi und Clorinda) – Claudio Monteverdi
Hessisches Staatstheater Wiesbaden · Studio

Kritik der Premiere am 24. Oktober 
Termine: 5./12./21. November