Kulturpolitischer Wahnsinn

Wenn die Politik die Claque orchestriert

Zur aktuellen Debatte um die Ernennung von Beatrice Venezi zur Musikdirektorin am Teatro La Fenice in Venedig

Willi Patzelt • 28. Oktober 2025


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Im Opernhaus La Fenice gehen die Wogen hoch. Sie einzudämmen, wird wichtig sein © Ferro & Pilot

Ein Opernhaus, das sonst Tragödien spielt, hat sich seine eigene inszeniert. Die Ernennung von Beatrice Venezi zur Musikdirektorin des Teatro La Fenice liest sich wie ein Lehrstück über Selbstzerstörung – mit allen Ingredienzien, die man aus der Oper kennt: Macht, Eitelkeit, Verrat und Schweigen. Ein Haus, das über Jahrhunderte ein Phönix aus der Asche war, verbrennt diesmal an sich selbst. Die Süddeutsche Zeitung widmete der Affäre vor einigen Tagen die ganze Seite 3. Zurecht: Das Magma des Kulturkampfes, das in der Lagune aufbricht, brodelt schließlich auch spürbar bis nördlich der Alpen.

Doch was war passiert? Als das Teatro La Fenice Anfang Oktober verkündete, Beatrice Venezi werde neue Musikdirektorin, erfuhren die Musiker davon aus einer Pressemitteilung. Noch wenige Tage zuvor hatte Intendant Nicola Colabianchi – ein Kulturbeamter, dem eine wohl klar wahrnehmbare Nähe zur Premierministerin nachgesagt wird – sie beschwichtigt: Es gebe mehrere Kandidaten und nichts sei entschieden. Dann war aber doch auf einmal alles entschieden – ohne Gespräch, ohne Abstimmung.

„Von Anfang an war klar, dass diese Entscheidung von der Regierung kam“, sagt Marco Trentin, zweiter Cellist am Opernhaus Fenice. „Der Intendant hatte versprochen, er werde uns Musiker konsultieren – das ist nie geschehen. Wir haben von der Ernennung erfahren, indem wir die Fenice-Pressemitteilung auf Social Media gelesen haben.“ Wenige Tage später, am 8. Oktober, kam es zu einem Krisentreffen. „Wir sagten, wir wollten die Ernennung widerrufen. Aber wir waren bereit, sie erst einmal zu erleben, sie kennenzulernen, und dann zu entscheiden – nur, wir haben sie nie gesehen. Uns wurde gesagt, man könne sie ausprobieren, aber sie wäre ohnehin ernannt worden. Das war ein Scheindialog.“

Venezi ist jung, schön, eloquent – in Italien vor allem für Shampoo-Werbung bekannt, aber politisch durchaus einflussreich. Früh an der Seite Giorgia Melonis, trat sie bei Parteiveranstaltungen der Regierungspartei Fratelli d’Italia auf, posierte auf Plakaten, beriet das Kulturministerium. Sie lehnt Quoten ab, will generisch-maskulin als „Direttore d’orchestra“ bezeichnet werden und erklärt Genderfragen zur Nebensache. Das ist ihr gutes Recht und inhaltlich durchaus nachvollziehbar. Doch es wird heikel, wenn das musikalische Format fehlt und der Verdacht entsteht, man sei gerade wegen jener Ansichten ins Amt gehoben worden.

Denn musikalisch ist sie wirklich ein Leichtgewicht. Genau einmal dirigierte sie das Fenice-Orchester: während der Corona-Pandemie mit Samuel Barbers hinreißendem Adagio for Strings. Ein Videomitschnitt bezeugt freilich noch heute die gepflegte Harmlosigkeit, in der es da versickerte. Ansonsten finden sich einige Einspielungen von ihr, von denen besonders Wagners „Liebestod“ als besonders unbeeindruckend heraussticht. Ihr wohl skurrilster auf Video festgehaltener Auftritt: ein NATO-Lehrgang, bei dem sie ein in Intonation und Klang ausbaufähiges Streichquartett durch die «Carmen»-Ouvertüre peitschte (Facebook-Link hier). Die Bündnispartner dürfen indes hoffen, dass es um die NATO in Italien besser bestellt ist, als diese Einlage es nahelegt.

Zumal Ministerpräsidentin Giorgia Meloni vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik Italien nicht zuletzt aufgrund ihrer offen pro-amerikanischen Haltung und Nähe zur Trump-Linie durchaus an Sichtbarkeit verliehen hat. Innenpolitisch will Meloni derweil unter anderem „die kulturelle Hegemonie der Linken“ brechen. Das ist auch an und für sich nachvollziehbar: verkrustete Hegemonien führen zu Stillstand – und der ist im restlichen Europa evident, beispielsweise in den Sackgassen des postmodernen Regietheaters zu besichtigen. Doch ihr Vorgehen – ganz im Stile ihres damaligen geistigen Bruders aus dem Weißen Haus, der kulturpolitisch noch radikaler agiert – wird zur Perversion von Kultur, ja zum kulturpolitischen Wahnsinn schlechthin. Denn das, was Meloni als „Befreiung der Kultur“ verkauft, ist in Wahrheit ihre Kolonisierung.

Ein Akt der Selbstachtung: Das Orchester forderte auf dem Campo Sant'Angelo eine musikalische Leitung, die seinem Rang gerecht wird © privat

Am 17. Oktober sollte ursprünglich Alban Bergs «Wozzeck» die Saison eröffnen. Statt dissonanter Armut erklang draußen auf dem Campo Sant’Angelo Vivaldi, Verdi, Va pensiero. Das Orchester streikte – nicht aus Trotz, sondern aus Selbstachtung. Keine Transparente, keine Parolen, nur Klang. Ein stiller Aufstand gegen politische Anmaßung. Seither wird vor jedem Konzert eine Erklärung verlesen – ruhig, fest, ohne Pathos. Ein Mitglied des Orchesters spricht von Transparenz und künstlerischer Verantwortung. In der Intendantenloge: ein Lokalpolitiker, offiziell anscheinend Ehrengast, tatsächlich wohl Teil einer orchestrierten Claque. Er ruft dazwischen, die Musiker sollten „sich aufs Spielen konzentrieren“. Die rechts-konservative Tageszeitung Il Giornale feiert ihn als mutigen Patrioten, und das Publikum habe ihn dafür gefeiert. Andere sagen: Er sei ausgebuht worden und noch vor dem ersten Ton wieder gegangen. Sicher ist nur: Das Fenice ist zum Resonanzraum der Parteipolitik geworden. „Ich denke, niemand wurde direkt eingeschüchtert“, sagt Marco Trentin. „Aber der Ton vieler Politiker und mancher Zeitungen war ausgesprochen aggressiv.“ Er hofft, die Regierung nehme diese Entscheidung zurück – und dass Venezi selbst zurücktritt. „Auch für sie wird das sonst eine schmerzliche Geschichte“, so der Cellist.

Denn was hier verhandelt wird, ist längst mehr als ein Personalakt. Beatrice Venezi ist sicherlich kein schlechter Mensch und hat es auch nicht verdient, zum Bauernopfer dieser kulturpolitischen Schlacht zu werden. Aber sie ist schlicht die falsche Dirigentin für dieses Haus. La Fenice hat Brände, Kriege, Hochwasser überlebt. Es wird auch diese Episode überstehen. Aber das Magma, das in der Lagune aufbricht, bleibt nicht nur dort. Möge der Rest Europas hinschauen – und gewarnt sein, bevor dieselben tektonischen Spannungen auch nördlich der Alpen eruptieren. Für den Moment gilt: Venezi kann nicht Chefdirigentin bleiben.