Theater Münster

Massensterben am Krankenbett

Clara Kalus vergröbert am Ende ihre symbolkräftige Regie zu Golo Bergs beredten Klangwogen in «Tristan und Isolde», Brad Cooper und Kristiane Kaiser liefern einen subtilen Lyrik-Sprint

Roland H. Dippel • 10. November 2025

Brangäne (Wioletta Hebrowska, rechts) überreicht Isolde (Kristiane Kaiser) einen Liebestrank. Den von Isolde geforderten Todestrank wird am Ende allen anderen Figuren zum Verhängnis © Thilo Beu

Die ersten Akkorde dringen mit expressiver Dichte, Weichheit und Slowmotion aus dem Orchestergraben in die leicht wirkende Beton-Architektur des Theaters Münster. GMD Golo Berg macht Richard Wagners geniale und seit der Uraufführung 1865 für die Moderne so folgenreiche Partitur nicht zum quecksilbrigen Nervengift, sondern einer drückenden wie leuchtkräftigen Last. Trotz relativ kleiner Besetzung drängt das Sinfonieorchester Münster im sich aus dem berühmten Akkord fräsenden Vorspiel in schweres, dabei doch regsames Pathos mit geschmeidigen Klangräumen. Je sensitiver und brutaler die Regie von Clara Kalus zu Wagners Abstraktion des Sagenstoffes über Liebe, Verrat und schuldhafte Verstrickung mit einem Arsenal engmaschiger Zeichenhaftigkeit fortschreitet, desto melodiöser und sängerfreundlicher agiert der Münsteraner GMD – beim fernen Hörnerklang, aber auch in des Meeres und der Liebe Wellen.

Berg hilft bei der zweiten Vorstellung dem von einer rapid beschleunigten Erkältung immer heftiger attackierten Brad Cooper. Dieser bringt die anstrengendsten Teile der Riesen-Partie des Tristan trotzdem schlank und prägnant zu Ende. Zudem ist Cooper ein sensitiver Liebender und stirbt beeindruckend. Die in lyrischer Gefasstheit und leuchtender Intensität jede noch so kraftvolle Attacke meisternde Isolde von Kristiane Kaiser trägt Berg mit fordernder Achtsamkeit durch den langen Abend. Das Hauptpaar, das hier jünger wirkt als seine Interpreten es sind, findet mit wirklich sensiblen Berührungen und mentaler Harmonie zur entkörperlichten Vereinigung des zweiten Aufzugs.

Die Regie aber verweigert ihm den gemeinsamen „langen Gang ins Dunkel“ - wie Ernst Bloch die Partitur nannte. Isolde hebt im Video (Katarina Eckold) zu den letzten Akkorden den Kopf aus dem Wasser, gelangt aus dem Dunkel der Männerhölle ins rationale Tageslicht. Ebenbürtige Dritte im stimmlich hochkarätigen Wagner-Flow: Wioletta Hebrowska als höchst präsente Brangäne mit kollegial gezähmten Primadonnen-Aplomb. Auch alle anderen Partien inklusive den als penetrant gefährliche Meute durch Anton Tremmel zu intonationssicherem Radau motiviertem Männerchor laufen zu expressiver Passform auf.

Was sich hier und in Anna Webers vorausgegangener Inszenierung von Donizettis «Liebestrank» am Theater Münster einschleift, könnte man ohne weiteres als „feministischen Materialismus“ bezeichnen. Ohne Rücksicht auf die in beiden Opern auf eigene Art dargestellten emotionalen Extreme führen beide Regisseurinnen patriarchale Muster ad absurdum und opfern dafür sogar das, was dem ästhetischen Gebilde Musiktheater an eigengesetzlicher Überhöhung implantiert ist: exaltierte Maßlosigkeit und metaphysische Transzendenz. Weber verfährt dafür mit der Motorik einer Planierraupe. Sie durchsetzt Donizettis Partitur mit die musikalische Spannung störenden Generalpausen und streicht unerbittlich Stellen, welche den Figuren Tiefe geben. 

Kalus gibt sich wie bei ihrer auf drei Zeitebenen spielenden Regie zu Humperdincks «Königskinder» vor einem Jahr als poetische Analytikerin und sabotiert am Ende ihr vielschichtiges Rätselspiel mit einem platten Schlusscoup. Isolde singt den Liebestod und bleibt allein. Das ist nicht neu. Kalus‘ radikaler Kommentar dazu ereignet sich im dämmerigen Zweilicht: Tot sind wirklich alle außer Isolde und bilden auf Tristans verdrecktem Krankenlager einen Leichenhügel. Dabei sterben sogar – von Wagner in seiner Dichtung nach dem mittelalterlichen Versroman Gottfrieds von Strassburg nicht vorgesehen – Brangäne und der sich mit leidenschaftlicher Inbrunst auf Tristans Leiche wälzende König Marke. Todesursache: Sie trinken die dunkel schillernden Zaubertränke von Isoldes Mutter, als seien diese das euphorisierend einschläfernde Party-Fluid GHB. Grober Absturz also nach dem bis dahin mehrschichtigen und angemessenen Symbolpuzzle.

Imposant: Die Liebesszene von Isolde (Kristiane Kaiser) und Tristan (Brad Cooper) ereignet sich vvor Théodore Géricoults „Der Schiffbruch der Medusa“ © Thilo Beu

Dieter Richter setzt in Assoziation zu Wagners als «Tristan»-Nebenwerk auf Poeme seiner Muse Mathilde Wesendonck entstandenen Lieder zwei Treibhaus-Glaswände, auf denen die Kondensationstropfen zur Klimax der Liebesszene und damit die Zeit rückwärts fließt. Weit hinten rauschen Meereswellen. Isolde schreitet mit rotem Mohn im Arm durchs Geschehen. Ihr Brokatmantel kleidet sie wie eine präraffaelitische Gründerzeit-Schönheit und macht sie für die grobschlächtig angeschärfte Marine-Soldateska unberührbar. Wenn Isolde im dritten Akt dem in Knabe, Mann und Greis gespaltenen Tristan erscheint, ist sie Mutter, Ärztin und unsterbliche Geliebte. In solchen Momenten hat Kalus nichts gegen Wagners bildreiches Metaphernnetz einzuwenden.

Im zweiten Aufzug spielt die Liebesszene vor Théodore Géricoults imposantem Bild „Der Schiffbruch der Medusa“, einer weltberühmt gewordenen Gruppe von durch existenzielles Leid malträtierten Männern und Männerkörpern mit explizit queerem Touch. Genau zum ekstatischen Unisono Isoldes und Tristans schlitzt Melot dahinter ein weißes Reh auf und weidet es aus – welch Verweis auf destruierte Romantik! Das Hinüberschreiten Tristans und Isoldes ins Reich der Nacht gelingt zart, mit verletzlich freien Schultern, einem zärtlichen Umranken der Hände und fast entkörperlichter Wesenhaftigkeit. Da verhilft Kalus den Protagonisten Brad Cooper und Kristiane Kaiser zu intensiven Kleinstgesten, welche suggestiv in den Gesang wirken. Hingegen gestaltet Wilfried Staber den monotonen Enttäuschungslauf des Marke-Monologs mit größtmöglicher Kanten-Expression und macht ihr zu gefrorener Zeit aus versteinernden Emotionen. Gegen Ende taut sogar als dumpfer Haudegen gezeichnete Kurwenal von Johan Hyunbong Choi auf und verblutet mit plastischer Deutlichkeit. Genau wie der hier an Tristans Selbstmord-Wunde so gut wie unschuldige Melot von Ramon Karolan.

Isolde im gestürzten Goldrahmen – erst bedrängt und schließlich aus den Fluten auftauchend – wird zur geheiligten Wahrheit gegen die sich selbst mitsamt ihrer Wunden vernichtenden Männer. Aufgrund seiner Sensibilität und seines intelligent gestalteten Tristan verdient es die Figur und deren Sänger Brad Cooper, von Kalus und den durchaus stimmigen Kostümen Katharina Weissenborns derart erschlagen und in die zweite Reihe gedrängt zu werden. Das ist so radikal wie vor fast 50 Jahren Jean-Pierre Ponnelles Bayreuther «Tristan»-Inszenierung mit Isoldes letztem Erscheinen nicht konkret, sondern im Fiebertraum Tristans. Anhand des Münsteraner «Tristan» und «Liebestrank» lässt sich feststellen: Nichts ist dem „feministischen Materialismus“ derart unangenehm wie ein in der diesseitigen oder jenseitigen Welt dauerhaft und harmonisch verbundenes Paar – ob aus binärer oder non-binärer, reaktionärer oder apotheotischer Perspektive.


«Tristan und Isolde» – Richard Wagner
Theater Münster

Kritik der Aufführung am 8. November
Termine: 22. November; 14. Dezember 2025; 11./25. Januar 2026