Oper Frankfurt
Damals wie heute
Regisseur Keith Warner und Bühnen- und Kostümbildner Kaspar Glarner inszenieren mit «Boris Godunow» ein hochaktuelles Spiel um Liebe und Macht. GMD Thomas Guggeis führt den Orchesterapparat zur Hochform
Daniela Klotz • 11. November 2025
Politik und Religion sind des Teufels Lieblingstöchter. In schwesterlicher Einigkeit bringen sie den Usurpator Boris Godunow, den entlaufenen Mönch Grischka (Grigorij) Otrepjew, den intriganten Wassili Schuiski und die ebenso schöne wie herzlose Marina Mnischek auf den Geschmack der Macht und damit um den Verstand. Bezeichnenderweise zieht der Jesuit Rangoni die Strippen, und der Mönch Pimen dokumentiert das Desaster für die nachkommenden Generationen. Müßig, darüber zu spekulieren, was sich seit 1600 an der (russischen) Weltgeschichte geändert hat. Wichtig, zu beherzigen, dass es all die Protagonisten damals wirklich gegeben hat. Puschkin hat das historische Geschehen in ein Drama gegossen, das über alle Zeiten Gültigkeit hat, Mussorgski das Drama mit einer Musik versehen, die die Seele Russlands ebenso aufnimmt wie neu ersinnt.
Gleich zu Beginn ertönt das, was Mussorgski ab 1870 als russisches Musikgut komponiert und Dimitri Schostakowitsch 1939 sorgsam orchestriert hatte (das Stück von Religion und Politik war schnell ein Politikum geworden) in voller Wucht. Das Volk, der immanente Protagonist des Werks, hat dem aktuellen „Putschisten“ Boris Godunow zu huldigen, auf dass er die Zarenkrone annähme. Álvaro Corral Matute hat dazu Chor und Kinderchor zu einem wirkmächtigen Ensemble vereint. Uniformierte dirigieren die Massen von oben herab. Sprichwörtlich, denn sie stehen erhöht an den Wänden des hohen halbrunden, eher spartanischen Zweckbaus, den Kaspar Glarner als wandelbares, die Zwänge und Enge der historischen Situation verdeutlichendes Bühnenbild geschaffen hat. Den ganzen Abend über werden sich die Wände drehen, Freiräume für die Zarenfamilie, Enge für das Volk und sogar den Wald bei Kromy darstellen. Nahezu ohne weitere Zutaten als mal ein Tisch, ein paar Stühle hier und da, ein Bett. Mehr braucht es auch nicht, denn die Wände dienen auch als Projektionsfläche für Jorge Cousineaus klug durchdachte bildgewaltige Videos.
So erscheint eine riesige Bibliothek, vor der Mönche eifrig schreiben, als Hintergrund des ersten Bildes. Im Kloster Tschudow initiiert der Mönch Pimen versehentlich die nächste Machtübernahme im instabilen Zarenreich, als er dem jungen Grigorij das letzte Kapitel seiner Chronik Russlands überträgt. Andreas Bauer Kanabas ist mit seinem wohlgeführten, von der Rolle gänzlich durchdrungenen Bass eine Offenbarung. Dmitry Golovnin als Grischka Otrepjew, dessen strahlender Tenor zwischen echter Innerlichkeit und wahrem Wahnsinn schillert, zunächst einmal auf der Flucht. Er könne im Alter des von Boris Godunow vermutlich gemordeten Zarewitsch Dmitrij sein, hatte Pimen durchblicken lassen. Und prompt geriert Grischka sich zum Wiederauferstandenen. Mit aller Raffinesse des Emporkömmlings schlägt er sich bis an die Grenze Litauens durch. Da muss der inzwischen steckbrieflich Gesuchte im Wirtshaus noch mit der Dreistigkeit Glück durchs Fenster des Abtritts entweichen. Ein gelungener „Gag“ der Regie, der das düstere Geschehen ein wenig aufheitert. Kurz darauf sind ihm Volk und Militärs jedoch bereits verfallen.
Er wird zur Gefahr für Boris Godunow, der, wie man Alexander Tsymbalyuks stimmlich wie darstellerisch ganz einfach exquisiter Interpretation anmerkt, im Grunde ein guter Herrscher sein will. Sechs Jahre ist er nun an der Macht. Im von den Bühnenelementen geformten riesigen Halbrund sorgt er sich um die Regierungsgeschäfte. Erst versinnbildlicht nur ein riesiger Wandteppich diese Zentrale der Macht. Dann beginnt die Uhr zu ticken. Als Projektion an der mittleren Wandfläche, als langsam kreisende Drehbühne, die auf zwölf Kissen immer neues Unheil zu Tage fördert. Ungreifbar ist die Zeit, die dieses Uhrwerk anzeigt. Zeiger drehen sich und dann Ziffern, am Ende versinnbildlicht das Uhrwerk das Hirn Godunows, in dem sich der Wahnsinn ausbreitet, „umhüllt“ ihn der Kosmos, verschlingt ihn die Geschichte.
Das ist umso beeindruckender als das Publikum diesen Mann, der durch grausige Bluttaten an die Macht kam, zuvor als Mensch und Vater erlebt. Der Gedanke an den toten Knaben Dmitrij wird ihn in den Wahnsinn treiben. Für seine Tochter Xenia, deren kurzem Auftritt Anna Nekhames Intensität verleiht, hätte er sich mehr gewünscht als schon während der Verlobungszeit zu verwitwen. Seinen Sohn, dem offenbar innig geliebten und von Karolina Makuła innig gesungenen Fjodor, ermuntert er, kindisch die Geschichte vom Papagei Popin und den Mägden zu erzählen. Sogar dem von AJ Glueckert charakterstark gegebenen selbst nach der Zarenmacht strebenden Fürst Schuiski ist er bereit zuzuhören und zu glauben.
Thomas Guggeis, der den gesamten monumentalen Abend über das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zur Höchstform führt, zeichnet jede Sekunde, jede Facette dieses inneren und äußeren Geschehens nach – wuchtig, luzide, hingebungsvoll, bezwingend, Mussorgskis rezitativem Duktus folgend, die musikalischen Ideen Schostakowitschs herausarbeitend, immer mit Einklang mit dem durchweg großartigen Sängerensemble.
Ein wahrer Unmensch ist dieser Godunow also nicht, nur durch Gier deformiert unter die Räder der Geschichte gekommen. Ganz anders verhält es sich da mit Marina Mnischek und dem Jesuiten Rangoni. Die Ergebenheit einer Tochter fordert der Kirchenmann von der Tochter des Wojwoden von Sandomir. Mussorgski hatte den „Polen-Akt“ nachgereicht, um der Zensur zu gefallen. Eine Frauenrolle hatte gefehlt. Man könnte sagen, der Komponist hat dem Wunsch mit dem polnischen Intermezzo auf hinterlistigste Weise entsprochen: Marina Mnischek, die Zarin werden will und das Volk mit ihrer Schönheit blenden, und Rangoni, der im Hintergrund die Strippen ziehen will, sind das personifizierte Böse. Regisseur Keith Warner, der so viele eindrückliche Erzählmomente schafft, lässt die Schöne den „Vater“ genussvoll auspeitschen, den jedoch, ohne sie anzugreifen, vollständig über ihren Willen triumphieren. Thomas Faulkner ist ein packender Rangoni. Ist sein Körper wirklich nurmehr Stein, wie er später Dmitrij sagen wird? Marinas Herz ist es. In einer schönen Projektion sehen wir die Entstehung ihre neuen Kleides durch Volkes Hände Arbeit. Sie verachtete das Ergebnis ebenso wie die Huldigungen. Diese Frau als Zarin! Und dabei ist Sofija Petrović mit dieser Szene erst am Anfang ihrer Kunst. Richtig in Fahrt kommt sie, als sie Dmitrij instrumentalisiert. Dramatisch, sinnlich, üppig, eiskalt. Er wird ihr williger Popanz sein.
Mehr ist auch Godunow nicht mehr. Während der Ratsversammlung der Bojaren entsteigt er einem zunächst verschlossenen riesigen schwarzen Fabergé-Ei. Da hat die durch alle Zeiten mäandernde Kostümkunst Kaspar Glarners bereits dafür gesorgt, dass der eigentliche Zeitfaktor ausgeblendet ist. Gestern, heute, morgen – irgendwo auf der Welt werden sich die Bilder immer gleichen. Hier erliegt Boris Godunow seinen Gewissensqualen, nachdem Pimen vom Wunder am Grab des toten Dmitrij berichtet hat. Das Volk misshandelt vollkommen entfesselt die bisherigen Machthaber, die Folterwerkzeuge aus großen Eiern ziehend. Nichts Gutes brütet die Geschichte aus. Die beiden entlaufenen Mönche Warlaam und Missail, gesungen von Inho Jeong und Peter Marsh, verbreiten Jahrmarktsstimmung à la Punch and Judy. Unter Jubel entschwebt Dmitrij auf einem mächtigen Doppeladler, während Marina, in prachtvolle Gewänder gekleidet, die Bodenhaftung, sprich, die Macht behält. Mit höchster Intensität intoniert Michael McCown die letzten Worte des Gottesnarren: „Weine, weine, russisches Volk, hungerndes, russisches Volk“.
In der Realität wird Fjodor, den Godunow noch zum Zar bestimmt hatte, keine zwei Monate nach der Thronbesteigung verhaftet und erdrosselt. Seine Schwester Xenia wird von Dmitrij missbraucht und ins Kloster verbannt. Der neue Zar Dmitrij bleibt gerade ein Jahr auf dem Thron. Dann wird er bei einem Fluchtversuch angeschossen und stirbt. Marina Minschek wird in Jaroslawl interniert. Wassili Schuiski ist nun Nutznießer und Machthaber. Seine Regierungszeit dauert vier Jahre.
«Boris Godunow» – Modest P. Mussorgski, Instrumentation von Dmitri D. Schostakowitsch
Oper Frankfurt · Opernhaus
Kritik der Aufführung am 8. November
Termine: 14./21./23./26. November
Zum Thema
OPE[R]NTHEK / OPER FRANKFURT
Was ist Wahrheit? - von: Mareike Wink, in: Magazin, Oper Frankfurt, November / Dezember 2025