Nationaltheater Mannheim
„Oh seht, oh seht!“ – und kommt bloß nicht zu spät
Pierangelo Valtinonis «Alice im Wunderland» bietet Gute-Laune-Garantie, Schmunzel-Potenzial und Suchtfaktor für große und kleine Opernfans und die, die es werden wollen
Daniela Klotz • 17. November 2025
Alice tut das, was alle Kinder gern tun: nachts heimlich lesen, statt zu schlafen wie der Rest der Familie. Glucksend und kichernd folgt sie der Geschichte, lässt ihrer Fantasie freien Lauf, und plötzlich steht das weiße Kaninchen mit der Taschenuhr vor ihr. Immer in Eile hoppelt Schauspieler Benno Schulz fortan leichtfüßig mit witzigen Sprüngen durch die weltbekannte Geschichte, akrobatische Einlagen inklusiv. Die kleine Alice folgt dem possierlichen Tierchen ins Wunderland, durch den kilometerlangen Gang in den Kaninchenbau, bis vor die geheimnisvolle Tür.
Indem Lena Hiebel, die auch die ganz entzückenden Kostüme ersonnen hat, den Kaninchenbau samt vier übergroßen Blumen als eher abstraktes Einheitsbild auf die Bühne stellt, eröffnet sie der Fantasie alle Möglichkeiten. Unterstützt „nur“ durch die Hell-/Dunkel-Licht-Effekte von Damian Chmielarz und den Damen- und den Kinderchor des Nationaltheaters Mannheim. Aus dem Off beschwören die Stimmen das Regen und Weben im geheimnisvollen Garten, der sich Alice erst öffnet, nachdem sie durch einen Trank geschrumpft und durch ein Gebäck gewachsen ist. Regisseurin Mélanie Huber setzt solche Wandlungen mit spielerischer Leichtigkeit und zauberhaft bezaubernd um, wie ein Kind sie wohl umsetzen würde: Alice macht sich einfach ganz klein und streckt sich dann.
Ein bisschen naseweis ist diese Alice, kaum zu erschüttern in ihrer kindlichen Selbstverständlichkeit und ganz reizend gesungen und gespielt von Sopranistin Yaara Attias. Denn die Lewis Carroll Variante, die in Mannheim zu erleben ist, ist eine Familienoper. Nach Erfolgen wie «Der kleine Prinz», «Die Schneekönigin» oder «Pinocchio» hat der italienische Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler Pierangelo Valtinoni mit «Alice im Wunderland» einen weiteren Klassiker der (Kinder-)Weltliteratur in Noten gesetzt.
Er habe sich sofort in dieser Welt, in der die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft sind, wohlgefühlt, erzählt der bei der Premiere anwesende Komponist. Um die Traumwelt musikalisch organisieren zu können, hat er jeder Figur eine eigene Farbe in Form eines Leitmotivs beigegeben, das ihren Charakter, ihre Skurrilität beschreibt, sich an die verschiedenen Begegnungen im Lauf der Handlung anpassen kann und ganz beiläufig auch als Einführung in die Welt der Musik dient. Verbunden in einer dem 20. Jahrhundert ebenso wie der italienischen Operntradition verhafteten Musiksprache fließen hier nämlich Jazz, Filmmusik, die Große Oper des 19. Jahrhunderts, Populärmusik und Kinderreimlieder zu einem eingängigen und humorvollen Reigen zusammen. Die Texte dazu stammen von Paolo Madron, der wie selbstverständlich die wichtigsten Momente und Zitate des Originals aufnimmt. Die liebevolle Übertragung des Librettos ins Deutsche entspricht dem ganz wunderbar.
„Nach dem ‚s‘ kommt der Tee! Trenne nie ’st‘, denn es tut ihm weh“, heißt es da in der verrückten Teestunde, während der Rafael Helbig-Kostka als verrückter Hutmacher, Uwe Eikötter als Märzhase und Thomas Jesatko als Schlafmaus das Mädchen mit ihren Kapriolen und Fragen schier verrückt machen und am Ende schrecklich langweilen. Den Unterschied zwischen einem Raben und einem Schreibtisch will die Schlafmaus wissen. Da ist ja die zu orientalischen Klängen rauchende und sich den Pilz hinaufwindende Raupe mit ihren schrägen Philosophien noch besser. Renatus Mészár macht im Pilz-Raupen-Kostüm eine ebenso gute Figur wie als verrückte Herzogin unterm beleuchteten Lampenschirm. Weil ihre Köchin (ebenfalls Benno Schulz) immer mit zu viel Pfeffer hantiert, ist die Herzogin dauernd am Niesen und Kieksen, sprich Wechseln zwischen Falsett und Basslage.
Das Märchen als Gegenwelt lasse ihm alle Freiheiten beim Komponieren, sagt Valtinoni. Das einzige Gesetz sei der beständige Wechsel von Emotionen. Alles müsse dabei sein: Liebe, Melancholie, Freude, Spannung, Spaß. Ebenso wie der von Jānis Liepiņš am Pult des Nationaltheater-Orchesters mitreißend herausgearbeitete Wechsel von musikalischen Farben und Stimmungen hat der schnelle Rollenwechsel in der Mannheimer Produktion System. Uwe Eikötter und Thomas Jesatko sind außer Märzhase und Schlafmaus auch die Zwillinge Zwiddeldum und Zwiddeldei, die während ihrer Dauerstreitigkeiten mit ihren vorgeschnallten Bäuchen sprichwörtlich aufeinanderprallen. Dem Haustier der Herzogin, der Grinsekatze, die nur in Gedanken spricht, verleiht Benno Schulz in seiner dritten Rolle die Stimme.
Dieser Katzenkreatur verdankt Alice schließlich die Einladung an den Hof der Herzkönigin. Marie-Belle Sandis herrscht köstlich cholerisch und gar nicht herzig über ein Reich verängstigter Spielkarten, die alle befürchten, beim kleinsten Fehlverhalten einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Ausgerechnet das Kaninchen verliest die Anklage im Törtchendiebstahlprozess, bei dem es jetzt auch Alice an den Kragen gehen soll. Es ist dies die letzte Stufe in deren Initiationsprozess. Die kleine Alice ist groß geworden und bietet der Königin die Stirn. In all den vielen Begegnungen im Wunderland immer um ein bisschen klüger geworden, ist sie jetzt die Herrin ihrer Traumwelt. Sie verlässt sie kurzerhand. Doch ähnlich wie bei ihrem Erfinder Lewis Carroll, verschließt sich ihr die Tür ins Reich der Fantasie nicht. Das weiße Kaninchen hoppelt weiter durch ihre Gedanken, und wie wir alle wissen, vermag Alice zurückzukehren und sich ihren Freunden und Feinden im Wunderland und damit den Wünschen und Ängsten tief in ihrem Innern zu stellen. Das weiße Kaninchen ist ihr ein Freund fürs Leben geworden.
Manche Opern-Eleven im Publikum, gleich welchen Alters, werden mit diesem liebenswerten 80-minütigen Stück womöglich die erste Oper ihres Lebens gesehen haben. Die letzte bestimmt nicht. Denn wer einmal ein Grinsen ohne Katze gesehen hat, vergisst das nicht.
«Alice im Wunderland» – Pierangelo Valtinoni
Nationaltheater Mannheim · OPAL (Oper am Luisenpark)
Kritik der Premiere am 14. November 2025
Termine: 22./30. November; 6/10./17./26. Dezember 2025; 2./9./10. Januar; 7. Februar 2026