Theater an der Wien in der Kammeroper

Tristan liebt Mathilde

Günther Groissböck gibt sein Regiedebüt, ihm stehen sonore Musiker zur Seite

Stephan Burianek • 10. Juni 2021

Probanden auf dem Weg zu ihrem Schöpfer © Herwig Prammer

Für einen Augenblick glaubt man sich in der Verfilmung eines Werbespots: Eine Frau auf der Bühne hält das ihr zuvor offerierte silberne Tablet – jenes mit dem Apfel auf der Rückseite, nicht die Trageplatte – freudig zu ekstatisierenden Klängen und psychodelischen Bildern in die Höhe. Obwohl das Orchester noch die Ouvertüre spielt, ist zu diesem Zeitpunkt bereits einiges geschehen: Zwei Probanden, ein Mann und eine Frau, wurden in einer Laborsituation mit Elektroschocks (?) traktiert und aufeinander losgelassen.

Dass ein solcherart durchinszeniertes Vorspiel zu Richard Wagners «Tristan und Isolde» nicht von eingefleischten Wagnerianern mit Protestbekundungen gestört wurde, hatte vermutlich damit zu tun, dass ausnahmsweise keiner der ihnen so verhassten „Regietheater“-Regisseure für diese Szene verantwortlich war, sondern, ganz im Gegenteil, einer ihrer amtierenden Helden: Günther Groissböck durfte in der Wiener Kammeroper seinen Assoziationen zu diesem Werk freien szenischen Lauf lassen.

An große Orchesterwerke in verdünnten Partituren hat man sich in den vergangenen Monaten beinahe schon gewöhnt, aber dieser Fall liegt anders, denn das «Tristan Experiment» war bereits vor der Pandemie als Kammeroper geplant. Gemeinsam mit dem Dirigenten Hartmut Keil entwickelte der Starbassist zunächst eine szenisch gestraffte Fassung, die u.a. durch einen großen Sprung vom Liebestrank zum Liebesduett charakterisiert ist und die Aufführungsdauer von knapp vier auf drei Stunden verringert. Matthias Wegele schuf dann eine reduzierte Orchesterfassung für ein kleines Streicherorchester und Solobläser (Klarinette bzw. Englischhorn, Oboe, Fagott, Trompete, Posaune, Horn). Auf Harfen und Pauken wurde verzichtet, dafür sorgt ein Akkordeon – kaum merklich – für eine zusätzliche Fülle.

Bereits vor Jahrzehnten erbrachte das Uri Cane Ensemble den Beweis, dass Wagners Musik nicht allein von seiner Üppigkeit lebt, sondern ganz wunderbar in einer kleinen Besetzung funktionieren kann. Und doch überrascht die finessenreiche Klangbalance, mit der das präzise spielende Wiener KammerOrchester unter der Leitung von Hartmut Keil aufwartet.

Günther Groissböck hat als Experimentleiter Marke die Feder in der Hand © Herwig Prammer

Ein solches Experiment funktioniert freilich nur mit sonoren Stimmen, und die bietet das Theater an der Wien in der aktuellen Aufführungsserie ohne Zweifel auf: Mit seinem überaus dunklen Timbre verschafft Norbert Ernst dem Tristan ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und vollzieht, etwa in „Sink hernieder, Macht der Liebe“, meisterhaft die gebotene Steigerung vom Liedhaften ins Operndramatische. Klangtechnisch ideal besetzt ist auch Kristiane Kaiser als Isolde, die all die wehmütige Sehnsucht, die dieser Partie innewohnt, auf ganz natürliche Art über ihre Stimme zu transportieren vermag.

Aber wen verkörpern die beiden wirklich? Tristan und Isolde? Zwei Probanden im Labor? Günther Groissböck stellt in seiner ersten Regiearbeit einen Bezug zur Entstehungsgeschichte von «Tristan und Isolde» her, an deren Anfang bekanntlich die Wesendonck-Lieder stehen – die entstanden, als der steckbrieflich in Dresden gesuchte Richard Wagner mit seiner Frau Minna ins Schweizer Exil floh, und dort in der Züricher Villa seines Bewunderers Otto Wesendonck ausreichend Entspannung fand, um dessen Frau Mathilde als Muse auszuerkiesen.

Und so verwandeln sich die beiden Probanden bei Groissböck, nachdem ihre Sinne in dem Laborexperiment offenbar von Hokuspokus-Maschinen verformt oder erweitert wurden und sie Tinte getrunken haben, in Richard und Mathilde. Die beiden Figuren, so heißt es im Programmheft, „erinnern sich aneinander, an ihre Sehnsucht und an die Kraft ihrer Gefühle“: Tristan ist Richard, Isolde ist Mathilde – Wagners Todessehnsucht, sein ständiges Sehnen nach „Erlösung“, ist für Groissböck, und darin widerspricht ihm wohl keiner, das Produkt einer Liebesqual – oder besser gesagt der Pein, die durch gesellschaftlich auferlegte Triebdisziplin hervorgerufen wird.

Warum sich indes eine Labormitarbeiterin flugs in Brangäne bzw. in eine Dienerin Mathildes verwandelt, erschließt sich nicht wirklich. Mit Juliette Mars ist sie jedenfalls top besetzt. Den König Marke als Laborchef gibt Günther Groissböck höchstpersönlich, und er genießt es sichtlich, mit seinem Stimmvolumen die Statik des einstigen Hotel-Ballsaals zu prüfen (Gänsehaut-Moment bei „feindlichsten Verrat“).

Fünf sonore Solist:innen © Herwig Prammer

Wenn man sich seiner Inszenierung mit Logik nähern möchte, dann könnte man die Handlung vielleicht so erklären: Otto Wesendonck, womöglich misstrauisch geworden, unterzieht seine beiden Lieblinge Mathilde und Wagner mittels neuester wissenschaftlicher Maschinen einer Prüfung – doch das Experiment läuft aus dem Ruder. Daran ist sein bipolarer Labormitarbeiter nicht unbeteiligt: Als Kurwenal und Melot in Personalunion changiert Kristján Jóhannesson mimisch brillant zwischen diabolisch-entrücktem Bösewicht und treuem Freund. Den Wiener:innen muss man das einstige Mitglied im Jungen Ensemble des Theaters an der Wien nicht mehr vorstellen – er wurde bereits damals von ihnen bejubelt. Bei der besprochenen Aufführung am 9. Juni war zu hören, dass sein Reifeprozess eine gute Richtung eingeschlagen hat.

Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass sich Tristan/Richard dennoch selbst den tödlichen Stich versetzt – mit einer Schreibfeder, was wohl jenen Punkt markiert, an dem sich die Wege von Tristan und Richard trennen. Stirbt auch Isolde? In gewisser Weise ja: Isolde sagt sich von dieser Welt los und betritt in eine neue, himmlische Bewusstseinsebene.

Wiewohl die motivischen Hintergründe des Laborleiters Marke auf der Bühne nicht erklärt werden und sich die Funktion des Tablets nur mit telepathischen Fähigkeiten erschließt, kann man Groissböck getrost eine bestandene Meisterprüfung im Regiefach konstatieren. Gut möglich, dass er künftig sein Schaffen verbreitert – aber bitte nur, wenn er in seinen Inszenierungen auch weiterhin singt.

«Tristan Experiment» (Richard Wagner)

Theater an der Wien in der Kammeroper
Kritik der Vorstellung am 9. Juni 2021

Weitere Termine: 13./17./20. Juni 2021
 


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