Donizetti Opera Festival
Ein Geheimtipp auch für Intendant:innen
Ebenso fröhlich wie tiefgründig wird Gaetano Donizettis Geburtstag in Bergamo mit drei erstklassigen Produktionen gefeiert
Stephan Burianek • 23. November 2025
Den gepolsterten Ohrensessel gibt es noch, auf dem Gaetano Donizetti in seinen letzten Monaten dem Klavierspiel von Giovannina folgte, der Tochter jener Baronin, in deren Palazzo man sich um ihn kümmerte. Der Stoff teilweise abgewetzt, steht er neben dem Biedermeier-Bett des Komponisten in einem kleinen Raum des Donizetti-Museums in Bergamo. In einem Bild darüber sieht man den großen Sohn der lombardischen Hügelstadt im bereits apathischen Zustand.
Krankheit und Wahn bildeten Donizettis letzte Station in einem gleichermaßen erfolgreichen wie verlustreichen Leben. „Verlust“ könnte auch das Motto des derzeitigen Donizetti-Festivals lauten, wenn es denn ein offizielles Motto gäbe, denn alle drei Opernproduktionen beleuchten unterschiedliche Schattierungen dieses Begriffs.
Da ist beispielsweise das Trauma der Venezianierin Caterina Cornero, der man in der gleichnamigen Oper den Bräutigam kurz vor der Hochzeit wegnimmt, weil die oberste Behörde der Republik beschlossen hat, sie müsse aus Staatsräson den König von Zypern heiraten. Im Libretto von Giacomo Sacchero mögen die Figuren in psychologischer Hinsicht nicht ganz so stark gezeichnet sein wie in anderen großen Werken, und die Geschichte könnte stringenter gebaut sein, aber sie liefert im Prinzip alles, was man für eine tragische Oper braucht.
Donizettis vierte Königin
Zu einem Anwärter für ein erweitertes Repertoire macht «Caterina Cornero» freilich die abwechslungsreiche Musik: Mit großem Orchester verband Donizetti darin klassischen wiewohl bereits modern „geradlinig“ klingenden Belcanto mit einer Musik, die Donizettis Zeit in Paris reflektiert und in der bereits ein Verdi anklingt. Und natürlich beinhaltet dieses Spätwerk ergreifende Arien, packende Duette und einen effektvoll eingesetzten Chor – in Bergamo immerhin jener der Mailänder Scala.
Riccardo Frizza, seit dieser Ausgabe Künstlerischer Leiter des Festivals, stellt mit dem Orchester des Donizetti-Theaters in der Eröffnungsproduktion unter Beweis, dass Belcanto auch dramatisch sein kann. Im Programmheft bezeichnet Frizza die Titelfigur außerdem treffend als Donizettis „vierte große Königin“ (neben Anna Bolena, Maria Stuard und Elisabeth). In Bergamo bildet die verdiente Carmela Remigio dieses Zentrum innerhalb eines erstklassigen, ansonsten männlich besetzten Ensembles. Mit feiner Technik changiert sie als Caterina problemlos zwischen Wehmut, Verzweiflung und Entschlossenheit. Ihr Tenor, dem sie schweren Herzens das seine bricht, um ihn vor einem Mordkomplott zu schützen, ist der dunkel timbrierte Enea Scala. Den Gerardo, der nach dem Rückzug seiner Braut zum Tempelritter wird, singt er kraftvoll und in der Höhe mit einem eigentümlichen, durchaus effektvollen Timbre. Die am heftigsten akklamierte Leistung des Abends liefert indes Vito Priante, der als Lusignano, König von Zypern, seinen noblen Bariton breit strömen lassen kann.
In gewisser Weise war die Wiederentdeckung dieses Werks im schmucken Teatro Donizetti in der bergamaskischen Unterstadt eine Uraufführung, denn erstmals spielte man die kritische Neuausgabe, die unter der Leitung der Musikwissenschaftlerin Eleonora Di Cintio erstellt wurde. Beide bislang vorliegenden Versionen des Werks sind nämlich nicht ideal: Die Uraufführungsfassung von 1844 (Neapel) wurde von der Zensur arg entstellt, und auch die überarbeitete Fassung von 1845 (Parma) entsprach nicht ganz den Vorstellungen des Komponisten. Die kritische Neuausgabe hat nun, soweit es die Quellen erlaubten, weitgehend jene Fassung rekonstruiert, die Donizetti ursprünglich für eine Uraufführung in Wien intendiert hatte – wo sie dann aber nicht gezeigt wurde, weil kurz zuvor in München eine «Catharina Cornaro» von Franz Lachner präsentiert worden war.
Das Regieteam von Francesco Micheli, dem hier der Musikkritiker Alberto Mattioli als Dramaturg angehört, fügte der historischen Handlung eine heutige hinzu: Eine junge Frau bangt im Warteraum eines Krankenhauses um ihren schwer erkrankten Mann. Sie erinnert sich an einen Urlaub in Venedig, an den Besuch des Palazzos Ca‘ Corner della Regina, an die Geschichte der darin aufgewachsenen Caterina Cornaro („Cornaro“ ist die italienische Schreibweise für das venezianische Geschlecht „Corner“). Im Prolog, dem in diesem Werk zwei Akte folgen, wechseln sich die beiden Ebenen ab, die Handlung spielt zunächst vorrangig in historischen, prächtigen Kostümen. Ein besonderer Hingucker ist der gold schimmernde Mantel von Mocenigo, den Riccardo Fassi mit einer sonoren Tiefe ausstattet, die wunderbar zu seinem diabolischen, weiß geschminkten Äußeren passt.
An venezianischem Kolorit fehlt es in diesem Werk nicht: Nach Caterinas herzerwärmender Arie, in der sie den Verlust des Bräutigams beklagt, singt im Original ein Gondoliere-Chor eine Barcarole. In Bergamo liefert der „Visual Designer“ Matteo Castiglioni an dieser Stelle mit einer projizierten Schneekugel und einer Gondel darin ein wehmütiges Bild der Erinnerung und der Vergänglichkeit. Blitzt die Krankenhaus-Handlung zunächst nur in den Momenten des Stillstands, also während einzelner Arien und Chorstellen auf, so verschwimmen im Laufe der Handlung die beiden Zeitebenen zunehmend. Der Bühnenbildner Matteo Paoletti Franzato meisterte diese schwierige Aufgabe bravurös: Sorgt zunächst die Drehbühne durch einfaches Drehen einer Eckwand für einen Wechsel zwischen Krankenhaus und venezianischem bzw. zypriotischem Palazzo, so wird die Wand später zweigeteilt und beide Ebenen nebeneinandergestellt.
Dass die Überblendung dann am Schluss doch ein wenig mit dem Text kollidiert, nimmt die Regie in Kauf: Als Chirurg kämpft der moderne Gerardo zu den Rufen „Guerra, guerra!“ (Krieg, Krieg!) um das Leben Lisignanos. Man spielt einen alternativen Schluss, der auf einem Manuskript Donizettis beruht und der in die kritische Ausgabe übernommen wurde: Lisignano darf vor seinem Tod noch Abschied von seiner treuen Ehefrau nehmen und ihr erzählen, dass Gerardo für ihn gefallen ist. Am Ende siegt der Tod, der hier mit Mocenigo gleichgesetzt wird. Die schwangere Caterina wird den zypriotischen Thron als alleinige Königin erben und in ihrem Leben noch einige Herausforderungen zu meistern haben.
Donizetti hatte zum Zeitpunkt seiner Arbeit an diesem Werk bereits seine Ehefrau und mehrere Kinder begraben müssen, und mit diesem Wissen glaubt man das in seiner Musik zu hören. Zudem hatte die Stadt Bergamo zu Beginn der Corona-Pandemie bekanntlich ganz besonders viele Tote zu beklagen. Die Entscheidung des Regieteams, in die historische Handlung eine zeitgenössische Ebene einzuflechten, ist vor diesem Hintergrund zweifellos plausibel, erschloss sich aber freilich nicht allen. Zwei Gruppen lieferten sich auf den Logenrängen abwechselnd ein Duell in Stereo: Bravi links, Buhs rechts.
Männer mit Führungsproblemen
Einhelliger war der Jubel tags drauf in der Oberstadt. Im Teatro Sociale, dem origineller Weise die Decke fehlt, sodass man vom Zuschauersaal direkt auf das Gestühl und auf das Dach blickt, gibt man einen Doppelabend mit den Kurzopern «Il campanello» (Die Glocke) und «Deux hommes et une femme» (Zwei Männer und eine Frau) – letztere ist auch unter dem Titel «Rita» bekannt.
Der Abend zeigt: Verluste können auch Chancen bieten. Für den von seiner Frau Rita stets geschlagenen Pepé wäre der Verlust der Gattin nämlich eine super Sache (in Paris um 1850, für das die Oper geschrieben wurde, waren Scheidungen laut Programmheft verboten). Als der tot geglaubte erste – gewalttätige – Ehemann Gasparo in Ritas Wirtshaus auftaucht, sieht Pepé seine Chance – und sich zu früh als Ehemann entbunden. Die häusliche Gewalt als Schenkelklopfer-Thema ist für eine heutige Regie freilich eine Herausforderung. Stefania Bonfadelli inszeniert dieses Werk mit den spielfreudigen Nachwuchssängern und –sängerinnen der Bottega Donizetti derart raffiniert, dass beim Lachen und Schmunzeln erst gar kein schlechtes Gewissen aufkommt. Klug ist zudem die Entscheidung, die Handlung dieser französischen Operette dramaturgisch mit der italienischen Farce «Il campanello» zu verbinden, die davor gespielt wird.
Das Einheitsbühnenbild von Serena Rocco bietet Räume für beide Opern: Links sieht man die Apotheke des Don Annibale Pistacchio, links die Bar von Ritas Gasthaus, darüber ein Gästezimmer mit Terrasse. Kostüme (Valeria Donata Bettella) wie Szene verweisen auf eine Handlung in den späten Wirtschaftswunderjahren. Im Gasthaus feiert man die Hochzeit des gutmütigen Apothekers mit Serafina, die von Bonfadelli als lebensfrohes Luder gezeichnet wird, das den Avancen des gewitzten Enrico (im Original ihr Cousin) sexuell gerne nachgibt. Weil Don Annibale am Folgetag eine Reise antreten muss, beschäftigt Enrico diesen während seiner Hochzeitsnacht derart gewitzt in unterschiedlichen Verkleidungen, dass der arme Bräutigam gar nicht zum Vollzug seiner Ehe kommt.
Unglaublich komisch ist, wie Francesco Bossi als Enrico mehrmals er an der Apothekentüre klingelt – in Notfällen hat ein Apotheker in dieser Operette nämlich stets Nachtdienst: zuerst als französischer Dandy, dann als vermeintlich erkälteter Sänger, der tags darauf bei einer Premiere auftreten müsse, schließlich als alter Herr, der dem zusehends genervten Apotheker ein Pulver für seine Ehefrau abverlangt.
Wüsste man es nicht besser, dann würde man in Bossi einen bereits erfolgreich etablierten Sänger vermuten, ebenso wie im Spielbass Pierpaolo Martella, der den Don Annibale mit scheinbarer Leichtigkeit singt und spielt. Doch gemeinsam mit vier weiteren Kolleginnen und Kollegen sind sie Nachwuchstalente, die es in diesem Jahr in die „Bottega Donizetti“ (Donizetti-Werkstatt) geschafft haben, die gleichsam eine Kombination aus Meisterklasse und Studio darstellt. Ob das faszinierende, bereits reif klingende Timbre der jungen Sopranistin Lucrezia Tacchi (Serafina), der chilenische Tenor Cristobál Campos Marín (Pepé), die energische Cristina De Carolis (Rita) oder Eleonora de Prez (Madama Rosa in «Il campanello») – sie alle würde man im Weinjargon als bereits trinkfertige Spitzengewächse bezeichnen, die bloß noch ein wenig Luft brauchen, um ihr Potenzial vollends entfalten zu können. Ihr Mentor stand ebenfalls mit ihnen auf der Bühne: Alessandro Corbelli, der auf eine mehr als 50-jährige Bühnenkarriere zurückblicken kann, interpretierte Ritas Ex-Mann Gasparo mitreißend komisch und stimmlich immer noch mehr als überzeugend. Im Graben dirigierte Enrico Pagano das auf Originalinstrumenten spielende Orchestra Gli Originali sicher und umsichtig.
Ein Geheimtipp für Intendanten wie Publikum
Ebenso wie am Eröffnungstag war auch am zweiten Abend die ansteckende Atmosphäre spürbar, mit der das Publikum das Donizetti-Festival begeht, das stets am Geburtstag des Meisters am 29. November endet. In Bergamo trifft man weniger auf kultische Verehrung, wie man dies etwa aus Bayreuth kennt, und auch nicht auf einen Laufsteg, wie im sommerlichen Salzburg. Das Publikum kommt mit einer sichtlichen Freude und einer Neugier auf Neues. Immerhin werden nur wenige Donizetti-Fan zuvor schon einmal «Il furioso nell’isola di S. Domingo» (Der Wahnsinnige auf der Insel Santo Domingo) auf einer Bühne gesehen haben. Dieses tragikomische Inseldrama mit versöhnlichem Ausgang basiert in seinem Kern auf einer Episode aus Cervantes‘ „Don Quijote“ und erzählt die Geschichte von Cardenio, der aus Liebe wahnsinnig geworden ist und auf einer karibischen Insel von den Einwohnern Bartolomeo und Marcella mitleidvoll betreut wird. Cardenios Braut war im letzten Moment mit einem anderen durchgebrannt, diese Enttäuschung kann er nicht überwinden.
Nino Machaidze ist als reuige Ex-Braut Eleonora mit ihrem immer noch samtig runden Sopran der Star des Abends, Paolo Bordogna ein erstklassiger Cardenio. Als Cardenios Bruder Fernando erfreut Santiago Ballerini mit einem strahlenden Tenorklang, wenn auch am Premierenabend mit fragiler Intonation.
Die Inszenierung unter der Regieleitung von Manuel Renga lebt von einem ästhetisch ansprechenden Bühnenbild von Aurelio Colombo, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, und der die Hinterbühne durch eine Wand mit exotisch-bunten Tapetenmustern begrenzt, deren unsichtbare Türen und Fenster immer wieder Auf- und Abtritte ermöglichen. Cardenios Ausnahmezustand wird mittels im Raum schwebender Alltagsgegenstände visualisiert.
Weil Blackfacing im Theater längst als Tabu gilt, macht Regisseur Renga aus dem schwarzen Sklaven Kaidamà, den Bruno Taddia mitreißend ausfüllt, eine Art Commedia-dell‘arte-Figur und lässt dessen Gesicht stattdessen weiß anmalen. Ergreifend ist vor allem die Parallelhandlung, mit der Renga dem Wahnsinn durch den Verlust der Liebe noch den Verlust des Geistes hinzufügt: Im Altenheim ruft die gealterte Eleonora dem dementen Cardenio die gemeinsame Geschichte mittels Fotoalben in Erinnerung.
Am Ende lässt sich sagen: Die Produktionen des diesjährigen Donizetti Opera Festivals wirken wie aus einem Guss. Nicht nur die mit wissenschaftlichem Ernst umgesetzte musikalische Qualität rührt die Werbetrommel für den produktivsten aller Belcanto-Komponisten. Die Inszenierungen sind auf der Höhe unserer Zeit, und obwohl (oder vielleicht sogar weil) sie ohne Bezugnahme auf die gegenwärtige Tagespolitik auskommen, punkten sie mit einem besonderen Tiefgang. Sie seien auch den Intendanten als Geheimtipp ans Herz gelegt: Nur «Caterina Cornero» ist eine Koproduktion mit einem anderen Opernhaus (Teatro Real in Madrid), die anderen beiden Inszenierungen sind noch zu haben.
Donizetti Opera Festival (Bergamo)
«Caterina Cornero», Teatro Donizetti · «Il campanello» (Die Glocke) / «Deux hommes et une femme» (Zwei Männer und eine Frau), Teatro Sociale · «Il furioso nell’isola di S. Domingo» (Der Wahnsinnige auf der Insel Santo Domingo), Teatro Donizetti
Die Kritik basiert auf den Premierenvorstellungen vom 14. bis 16. November
Im kommenden Jahr stehen drei weitere weitgehend unbekannte Werke auf dem Programm: Die beiden ernsten Opern «L’esule di Roma» und «Alahor in Granata» sowie die komische Oper «Le convenienze ed inconvenienze teatrali» (Sitten und Unsitten der Leute vom Theater) werden wieder neue Perspektiven öffnen. Den Zeitraum vom 13. bis 29. November sollte man sich daher bereits jetzt rot im Kalender vormerken.