Komische Oper Berlin
Die Frau ohne Gesicht
Evgeny Titov gibt mit seiner Inszenierung der «Salome» von Richard Strauss Rätsel auf, GMD James Gaffigan und die Protagonisten begeistern
Joachim Lange • 24. November 2025
Musikalisch ist diese neue Berliner «Salome» ein Wurf. Für die Ostberliner Komische Oper, die bis auf weiteres im Westberliner Schillertheater untergebracht ist, haben sich GMD James Gaffigan, sein Orchester und ein handverlesenes Protagonistenensemble in den musikalischen Rausch, die dunkel leuchtende Poesie, das Grenzgängerische dieses Einakters vom Anfang des vorigen Jahrhunderts gestürzt. Und wieder zeigt sich, dass diese Opernvariante der biblischen Episode ein in jeder Hinsicht starkes Stück ist. Hier werden Tod und Liebe bzw. Begehren auf so abgründige Weise in Eins gedacht und das Publikum in den Sog der Musik hineingezogen, um es gleichsam zu verführen, dass es einem jedes Mal von Neuem den Atem verschlagen kann.
Gaffigan setzt auf die Überwältigung, aber auch so aufs Detail, dass das Ereignis damit auch verständlich wird. Etwa, wenn schon am Ende von Salomes Annäherung an den gefangenen Propheten das Motiv zu „Ich will den Kopf des Jochanaan“ betont fordernd aufleuchtet. Man wird darauf auch deshalb aufmerksam, weil in dem hermetisch geschlossenen Raum, den Rufus Didwiszus für die Inszenierung von Evgeny Titov gebaut hat, plötzlich die Wände nach oben gehen und 147 Fächer mit menschlichen Köpfen in den Wänden puren Schrecken verbreiten. Hier lauert hinter der glatten Messing-Fassade das Grauen. Oder ist es eine latente Möglichkeit, zu der ungezügeltes Begehren zu werden droht, wenn ihm, so wie bei Prinzessin Salome, keine zähmenden Grenzen gesetzt sind?
Der Bühnenraum macht in seiner nüchternen Abgeschlossenheit und Ambivalenz Eindruck. Die Wände sind scheinbar makellos, aber der Boden ist aufgebrochen. Aus dem Riss in dieser kleinen, exemplarischen Welt ragt der Zugang zur Zisterne mit dem gefangenen Propheten. Der verkündet von dort aus das grundsätzlich Andere und stellt alle Gewissheiten bei Herodes und Herodias infrage. Er wird zum Objekt der Begierde einer Salome, die selbst das Objekt der Begierde ihres Stiefvaters ist.
Das einnehmend Verführerische an Titovs Inszenierung ist dieser atmosphärische Raum, der bei aller Konzentration und Abgeschlossenheit, Entfaltungsraum für die Musik und die Protagonisten lässt, aber auch das assoziative Weiterdenken bzw. -fühlen bei den Zuschauern ermöglicht.
Mit ihren opulenten Kostümen betont Esther Bialas darüber hinaus die verschiedenen Charaktere auch optisch. Als Soldaten kommen Philipp Meierhöfer und Andrew Harris tatsächlich historisch-römisch daher. Auch Agustin Gómez als die Prinzessin anhimmelnder Narraboth und die ausdrucksstarke Susan Zarrabi als in ihn verliebter Page wandeln optisch auf historisierenden Pfaden. Nazarener (Junoh Lee und Christoph Späth), Kappadokier (Stephanos Tsirakoglou) und Sklave (Grace Heldridge) dagegen folgen der In-etwa-Moderne am Hofe. Karolina Gumos trägt als Herodias all ihre (überdeutlich verstärkten) Körperrundungen im goldenen Gewand offensiv so zur Schau, dass sie die Beschuldigungen, mit denen Jochanaan um sich wirft, bestätigt. Dagegen wirkt der giftgrüne Anzug des Herodes fast bescheiden. Matthias Wohlbrecht imponiert aber nicht nur mit bestechend klarer vokaler Eloquenz, sondern liefert auch darstellerisch das nahezu idealtypische Rollenporträt eines von Grund auf verdorbenen Herrschers, verkorksten Ehemanns und übergriffigen Stiefvaters.
Titov hat ihm zudem ein Gefolge im SM-Look mit einer Jeder-mit-jedem-Hemmungslosigkeit verpasst, das Barrie Kosky als Meister in diesem Fach auch nicht besser hinbekommen hätte. Der Kontrast zu den orthodox ausstaffierten Juden hätte kaum deutlicher ausfallen können. Genau diesen Hof und seinen Sittenverfall meint der Glaubensfanatiker in der Grube, wenn er sie allesamt verflucht. Dieser Prophet trägt hier nur einen Lendenschurz und auch nicht das von Salome besungene schwarze Haar. Mit vokaler Kraft und vitaler körperlicher Präsenz macht Günter Papendell Salomes erwachende Gier nachvollziehbar. Er wird für sie zur Projektionsfläche all dessen, was ihr bisheriges Leben verneint.
Bei Titov ist der (nahe liegende) Gedanke der Projektion zentral, verselbständigt sich allerdings so, dass er ausgerechnet die Figur im Zentrum, also Salome, in einer Weise trifft, die sie ihres Gesichtes beraubt. Das ist bis zum Schluss mit einer weißen Kopfhaube verhüllt, die ihre Figur optisch zum Alien machen würde, wenn er nicht zu ihrem Köper im kühl silbernen Kleid gehörte. Weil Nicole Chevalier aber eine der gegenwärtig überzeugendsten Salome-Interpretinnen ist, kann sie die Gesichtslosigkeit zum Glück „übersingen“.
Diese bis zum für sie diesmal nicht tödlichen Schluss der Figur beibehaltene Entindividualisierung, wird zwar vom Regisseur im Vorfeld wortreich (als „Weg zu sich selbst“) umschrieben, erklärt sich aber bei seiner szenischen Umsetzung nicht, sondern nervt auf die Dauer ehrlich gesagt. Sie bietet lediglich den praktischen Vorteil, beim Tanz der sieben Schleier mit mehr als einem Dutzend tanzenden, die Röcke hebenden, Herodes begrapschenden Salome-Doubles dessen Frauenbild zu verdeutlichen, das auf pure sexuelle Verfügbarkeit aus ist. Mit einigen Doubles in der Größe von Halbwüchsigen ist dabei auch die heute fast schon übliche These vom Missbrauch des Kindes Salome eingeflochten.
Neben der illustrierenden (gut nachvollziehbaren) Dosis von Kosky-Ästhetik und der sich etwas zu sehr im Rätselhaften verlaufenden Deutungsambition, wird die Hinrichtung des Jochanaan bei Titov schließlich zu einer Reminiszenz an die Brutalo- und Schockästhetik des frühen Bieito. Wenn ein ziemlich heruntergekommen wirkender Scharfrichter zur Zisterne schlurft und hineinklettert, ist per se nicht Gutes zu erwarten. Diesmal gibt es aber nicht den abgeschlagenen Kopf des Jochanaan, sondern den ausgeweideten Körper und die Eingeweide. Die zieht sich Salome durch den Schritt, mit dem Blut beschmiert sie ihre Kopfmaske. Man sieht für Momente ihre Augen und dann nur verschmiertes Blut. Soll das ihr „Ich“? Getötet wird sie diesmal auch nicht. Sie war offensichtlich eher nur - tja, was eigentlich? Der Jubel galt so einhellig der Musik und den großartigen Protagonisten, so dass auch die Regie glimpflich davon kam.
«Salome» – Richard Strauss
Komische Oper Berlin · Schillertheater
Kritik der Premiere am 22. November 2025
Termine: 28. November; 7./12./18./27. Dezember 2025; 3. Januar 2026